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Die Hütte gehöre zwei Damen aus Limoges, so die Nachbarin von gegenüber und zeigt Richtung Limoges. Den Kontakt hätte die Nachbarin von nebenan, sagt sie und zeigt nach nebenan. Deren Mann habe sich auch gelegentlich um den Garten gekümmert. Der Mann ist nicht da, auf ihn kann sie nicht zeigen.

Ich könne ruhig über die Gartenmauer klettern und mir das Grundstück einmal ansehen. Als ich den Fuß zum ersten Mal in den verkommenen Garten setze, habe ich wahrscheinlich schon verloren.

Ojee. Merde. Shit. (Ich denke, ich gelte zu Recht als sprachbegabt.) 😊

Hätte ich jetzt verwilderter Garten gesagt, klänge es zu romantisch. Er ist einfach ungepflegt und hässlich. Wer immer hier sich um den Garten gekümmert hat, wurde entweder zu schlecht bezahlt oder mochte keine Gärten.

Rundherum gibt es in diesem Weiler nur Bruchsteinhäuser wie von der Postkarte.

Dieses ist keins. Es ist eine betonfarbene Hütte mit abfallendem Dach. Sie ist rechteckig und das einzig Hübsche daran sind die dunkelroten Fensterläden.

Sie sind geschlossen und voller Spinnweben. In den 80er Jahren wurden solche cabanons überall in Frankreich gebaut als Wochenendhäuschen für diejenigen, in deren Familie sich keine echte maison de campagne befand. Kaufen muss man die maisons de campagnenicht, nur unterhalten; bei anständigen Leuten sind sie einfach schon immer in der Familie.

Aber: das hässliche kleine Entlein hat unübersehbar einen Schornstein, also einen Kamin. Das Häuschen ist größer als Jean-Michels, der Blick über das Mittelgebirge ist nach Westen horizontfüllend und die Hütte ist nicht aus Holz. Irgendein Weihnachtsmann hat mir wohl zugehört. Ich hätte weiterspinnen sollen. Was den Renovierungszustand angeht, habe ich mich nicht klar ausgedrückt. Es sieht schlimm und völlig verlassen aus.

MERDE. Ich habe Anne und die Zeit vergessen.

Als ich zurück am See bin, teilt sie mir mit, dass sie erst vor knapp fünf Minuten angefangen habe, sich zu fragen, wo ich bleibe. Meine Neuigkeiten nimmt sie gelassen.

Dann musst du da wohl mal klingeln.

Ich bekomme keinen Aufschub und keine Zeit zum Nachdenken, es ist der letzte Abend unserer Ferien. Ein Schluck Rotwein und ab zu den Nachbarn. Die Nachbarin sieht uns an, als hätten wir zwei Pistolen in der Hand, sie hat sichtlich Angst vor uns. Zum Glück fährt einen Moment später ihr Mann auf den Hof und das entspannt sie. Ich erkläre den beiden unser Anliegen und bitte um die Telefonnummer. Die könne sie mir nicht geben, die beiden Damen seien auf der liste rouge. Na ja, wenn man Immobilien verkaufen möchte, kann man sich auch erreichbar machen. Also bitte sie anzurufen und zu fragen, ob ich eine Telefonaudienz bekomme. Dazu erklärt sie sich bereit. Wieder werden wir aufgefordert, über die Mauer zu klettern und uns das Grundstück anzusehen, bis der Kontakt hergestellt ist.

Wir tun's. Anne gefällt der Blechdosencharme des Grundstückes auch und dann werden wir schon zum Haus der Nachbarin gerufen. Man hat sich bereit erklärt, mit mir zu sprechen.

Der Preis ist in Ordnung und nicht verhandelbar. Dass wir morgen nach Deutschland zurückmüssen, stört nicht. Treffen um halb neun an dem Gartentor, um das sich seit heute Nachmittag überraschenderweise meine kleine Welt dreht.

Wir essen etwas, ich habe allerdings das Gefühl, dass mein Kehlkopf etwas größer ist als gewöhnlich.

Mutter und Tochter erwarten uns pünktlich. Die Mutter geht mir, ich bin 1,64m und gelte hier als groß, ortsüblich bis zum Kinn und redet ununterbrochen. Die Tochter ist eine große, schöne und sehr sympathische Frau mit einem gelassenen Lächeln. Ob sie die Gelassenheit schon immer hatte oder im Zusammenleben mit ihrer Mutter erworben hat, werde ich leider nie erfahren.

Wir betreten das Grundstück zum ersten Mal nicht über die Mauer. Als die Mutter das große Gartentor öffnet, bricht ein Stück ab. Das müsse mal gestrichen werden, sagt sie. Oder verbrannt, denke ich.

Wenn das gruselige Zementgrau nicht wäre, wäre es nicht ganz so schlimm. Die Hütte hat eine zirka sieben Meter lange Front mit einer schmalen, ebenso langen Veranda. In Gedanken gieße ich schon eine helle Farbe in einen Eimer. Die Front hat zwei schmale hohe, dunkelrote Türen, die mit schmalen hohen Läden auf massivem Holz gesichert sind. Diese Läden sind für mich einfach der Inbegriff von Frankreich.

Sind Häuser wie Katzen? Suchen Katzen sich einen Dosenöffner und Häuschen einen Renovierungsknecht, wenn sie Angst haben zu sterben? Ein Jahr später erzähle ich einer von Jean-Michels Freundinnen (von der sehr netten Sorte) die Geschichte und sie antwortet mit einem Zitat:

Choses inanimées, avez vous donc une âme qui s'accroche à notre âme et la force d'aimer?

Leblose Dinge, habt ihr vielleicht doch eine Seele, die sich an unsere haftet und sie zur Liebe zwingt?

Als Madame die Türen öffnet, denke ich an Indiana Jones, der eine Höhle öffnet, die seit Aztekentagen verschlossen ist. Weniger Spinnweben muss der auch nicht zur Seite schieben. Da es nicht meine Spinnweben sind, lasse ich der dauerredenden Hausherrin den Vortritt, die sich mit einem Besen, der auf der Veranda herumsteht, den Weg bahnt. Drinnen fällt die Entscheidung in der Sekunde, als ich den Kamin sehe. Er ist für die ca. 30m² Wohnfläche ziemlich groß. Der Rest ist da und nicht so wichtig. Etwa sieben Meter lang, etwa drei Meter fünfzig tief, der Raum ist ein großes Rechteck. Zwei Fenster, zwei Türen. Kann man super lüften. Wieder schlägt das Erbe meiner Mutter durch.

Es sieht schlimm aus. Die Blümchentapete hängt von den Wänden, es ist sehr schmutzig. Neben dem Kamin ist ein riesiger Wasserfleck an der Wand. Einige Bewohner mit sechs oder mehr Beinen reißen vor uns aus, andere lassen sich nicht stören. Seltsamerweise gibt es eine große Anzahl von Kunstblumen, in Girlanden- und Strauß- in anderen Formen. Und Kiefernzapfen, die an die Wand genagelt sind, in unterschiedlicher Höhe und willenlosem Abstand. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Besitzerin um eine dieser Dekorationskünstlerinnen, die einfach irgendetwas irgendwohin stellt, hängt oder legt (lat. ponere, ein Wort, das mich im Lateinunterricht wahnsinnig gemacht hat, eil es nicht weiß, was es heißt) und dann sagt:

Ça fait joli, hein?

Hübsch, nicht wahr?

Die drei ersten Wörter, die man in Französisch lernen sollte sind:

Oui, das schönste Wort der Welt.

Non, das wichtigste Wort der Welt.

Bof, geht so.

BOF.

Mein Kopf sortiert ohne mein Zutun die Blumen in Plastik (muss ich entsorgen) und Papier (kann ich verbrennen). Die verstaubten Kiefernzapfen werden auch gut brennen. Wir unterhalten uns die ganze Zeit. Den Sperrmüll, der hier steht, darf ich behalten. Danke schön. Allerdings gehört ein funktionierender Gasherd dazu, das ist gut. Wie ich die beiden Riesenschränke entsorge, die den Raum völlig erschlagen, muss ich dann wohl noch herausfinden. Madame erzählt mir, wie sie mit ihrer Enkelin ganze Sommer hier verbracht hat. Dass das gelogen ist, weiß ich schon. Der Nachbar hat erzählt, dass sie im ersten Sommer mal da waren und dann so gut wie gar nicht mehr. Was ich jetzt sehe, ist das Ergebnis von zehn Jahren Verwahrlosung.

Der Rundgang durch den Garten ist auch nicht viel besser. Das Grundstück ist mit 800m² nicht klein und fällt ab zu dem Tal, das zwischen dem zuständigen Mittelgebirge und mir liegt. Überall liegen Hinterlassenschaften in Form von Blecheimern oder sonstigem Dreck. An den Rändern des Grundstücks stehen unzählige tote Thuja. Im unteren Teil des Gartens steht eine große Holzhütte. In der einen Hälfte wird Feuerholz aufbewahrt.

Die andere ist wieder zweigeteilt. Halb Plumpsklo, halb husbands hole. Ich weiß nicht mehr, wo und von wem ich gelernt habe, dass das einen Raum bezeichnet, in den Ehefrauen nicht hineindürfen und Ehemänner sicher sind vor Duftkerzen und Designerkissen. Am Türpfosten dieses Viertels der Hütte ist ein Autorückspiegel festgeschraubt, in dem man jede Annäherung vom Haus rechtzeitig sehen kann. Clever.

Das Häuschen verfügt über einen Anbau, eine remise von etwa 12 m², in die ich in Gedanken sofort ein Badezimmer einbaue. Auch hier werde ich ein paar Kubikmeter Müll herausschaffen müssen, aber die kann ich ja zu den anderen tun.

In die Gartenmauer ein kleiner Hinkelstein integriert, der so aussieht, als hätte Obelix ihn vor ein paar tausend Jahren hier kurz abgestellt. Die Tochter macht mich mit einem stummen Fingerzeig darauf aufmerksam.

Den Sprechdurchfall der Mutter, die erzählt, was sie hier alles Großartiges vollbracht habe, haben Anne, die Tochter und ich zu den Hühnerställen nebenan verschoben und in die Hintergrundgeräusche integriert.

Ein paar tausend Jahre. Die Hütte wird wohl in den achtziger Jahren jung gewesen sein. Aber alles andere hier ist sehr alt. Die Gegend zeichnet sich dadurch aus, dass überall riesige Granitsteine aus dem Boden wachsen. Anne und ich vermuten, dass irgendeine geduldige Endmoräne sich ein paar Millionen Jahre Zeit genommen hat, um sie hierher zu schieben, denn sie sind alle schön abgerundet. Die Nachbarn haben ihre Häuser darauf oder darum herum gebaut. Bei manchen sieht es aus, als würde der Felsen sich bis in den Innenraum fortsetzen.

Das ist auch das einzige Merkmal, das die Gegend außer ihrer unaufgeregten Schönheit auszeichnet, die mégalithes. Wir in Mon Village haben in unserem Gemeindewald die schönsten und größten. Alle anderen müssen sich von der Landstraße aus mit einem Hinweisschild autres mégalithes, andere große Steine, zufriedengeben.

Der Wald ist hell und voller Zauber. Kaum hat man ihn betreten, verschwindet die Zeit. Das Licht in Kombination mit dem Grün, den Reflexen des überall vorhandenen Wassers versetzt mich in eine Stimmung, bei der mich weder das Erscheinen einer Quellnymphe noch das ruhige Fressen eines Dinosauriers hinter der nächsten Wegbiegung erstaunt hätte. Das ganze Ensemble ist uralt und strahlt eine Ruhe aus, die ich noch nicht kannte. Mein Garten ist voller großer Steine.

Ich habe genug gesehen. Die Entscheidung ist ohnehin schon längst gefallen.

Wir laden Mutter und Tochter zum apéritif auf Jean-Michels Terrasse ein, um die Einzelheiten zu besprechen.

Ich werde mich um die Finanzierung kümmern und in den Herbstferien wiederkommen und Mutter und Tochter verkaufen die Hütte nicht an jemand anderen. Einen compromis de vente, einen Vorvertrag, hat ohnehin niemand zufällig in der Tasche.

Als wir am nächsten Morgen im Morgengrauen abfahren, regnet es. In diesen Pissnestern hält sich keiner mit Straßennamen auf. Es gibt immer nur eine Straße und die Häuser werden von oben nach unten durchgezählt. Ich stelle fest, dass ich wohl bald eine Adresse in Frankreich haben werde. 26, Mon Village.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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