Alltagsabenteuer in Deutschland

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Normalerweise glaube ich nicht an Grenzen, die nicht von Naturgesetzen bestimmt sind. Die meisten gesellschaftlichen Grenzen existieren nur in Köpfen. Ich habe Förderschüler Fachabitur machen sehen und Legasthenikerinnen Bücher schreiben. Die Grenzen, die man versucht ihnen zu setzen, interessieren mich nicht.

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Aber manchmal interessiert mich so eine feine und unsichtbare Linie dann doch und fast immer ist eine/-r unserer Schüler/-innen daran schuld.

Anlass für diese Geschichte ist eine Deutschstunde. Thema war "Politische Rede", eines meiner Lieblingsthemen, weil es auch um das Auffinden und Austricksen von Manipulation geht. Der politische Kontext war der Zuzug der syrischen Flüchtlinge und Unterrichtsgegenstand eine hasserfüllte Rede gegen diese Flüchtlinge.

Bei der Analyse werden in der Einleitung immer Anlass, Redeabsicht, Ziel der Rede und die Zielgruppe bestimmt. In der Klasse sitzt Terkan (Name geändert). Seine Familie stammt ursprünglich aus dem Iran. An schlechten Tage und wenn er seinen Bart wachsen lässt, sieht er ziemlich gefährlich aus. An guten Tagen ist er ein wacher, charmanter, wortgewandter Schüler mit einem Lächeln, das die Sonne aufgehen lässt.

Die Klasse einigt sich darauf, dass die Rede vor allem an das rechte politische Spektrum gerichtet ist, ihrer medialen Verbreitung wegen aber auch an alle Deutschen. Terkan meldet sich und fragt, ob er da mit dabei sei.

Es gibt Grenzen, die ich kenne und die ich akzeptiere. Auch wenn ich mit Anfang zwanzig meinen ersten französischen Verlobten geheiratet hätte, wäre ich nie Französin geworden.

Ich zucke mit den Schultern und frage ihn: Wie deutsch bist du denn? Er ist in Deutschland geboren und zur Schule gegangen. Er hat einen deutschen Pass und demnächst ein deutsches Fachabitur. Er hat deutsche und nicht-deutsche Freunde.

Hmpf. Keine Ahnung. Die Klasse ist auch ratlos. Die einzige Antwort, die mir einfällt ist:

  • Also ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob du deutsch genug bist um mit uns zusammen die Syrer zu hassen. Da müssten wir wahrscheinlich den Redner fragen.

Wir haben die entsprechende Mail dann doch nicht geschrieben und das bedauere ich bis heute. Die Antwort hätte mit Sicherheit eine interessante Unterrichtsstunde ergeben.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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Bonn