7 min read

Jean Michel hat mich eingeladen.

Wir waren in den 1980er Jahren ein Paar und haben uns friedlich getrennt. Der Kontakt blieb lose aber freundschaftlich über die Jahre.

2009 im Frühling in Paris haben wir uns dann eine ganze Weile nicht gesehen und es gibt viel zu erzählen. Er zeigt mir Bilder auf dem Smartphone von einer kleinen Holzhütte im Limousin, die er während seiner Zeit in Poitiers gekauft hat. Und er fragt, ob ich im Sommer nicht mal kommen möchte. Klar möchte ich, ich habe noch nichts vor. Ich frage meine Freundin Anne, ob sie mitkommt. Nach Auswertung aller Daten haben wir neun gemeinsame Tage. Das lohnt sich gerade, es sind immerhin tausend Kilometer. Ich habe einen Termin in Aachen mitten in den Ferien und sie ist zu einer Hochzeit eingeladen.

Wir müssen über Paris fahren, damit Jean Michel uns den Schlüssel und die Gebrauchsanweisung für das Häuschen geben kann. Er war am Telefon ein bisschen verblüfft, dass ich so ungefähr wusste, was und wo das Limousin war. Das weiß man nämlich in Frankreich auch nicht unbedingt. Und vor allem weiß kein Mensch, warum man da hin fahren sollte. Frankreich hat doch so schöne Ecken. Die Provence zum Beispiel. Auf dem Weg nach Paris unterhalten wir uns lange darüber, wie es denn wäre, so ein Häuschen zu haben. Ich bin Lehrerin, sie will es  werden und damit haben wir ein Luxusproblem, von dem andere Arbeitnehmer nicht behelligt werden: viele Ferien.

Und wenn in den Ferien gearbeitet wird, muss man das ja nicht zwingend im Rheinland machen. Klassenarbeiten und Abschlussprüfungen kann man überall korrigieren. Das Resultat unseres Gesprächs ist: So ein Häuschen zu besitzen, wäre schon toll. Man könnte es sich teilen. Wenn es weit weg wäre, dann müsste es am Meer sein. Wenn es nicht weit weg sein soll, dann könnte es gut in der Eifel sein, damit man am Wochenende hinfahren kann. In der Eifel bin ich ohnehin gerne, ich mag diese unberechenbare Zicke mit ihrem hohen Himmel und ihrem rauen Charme. Wir haben da schon wunderbare Wochenenden und Urlaube verbracht. Die Eifel ist nicht eben übervölkert.

In Paris geht alles glatt, wir machen uns auf den Weg nach Süd-Süd-Westen. Zu der Zeit hat noch nicht jedes Auto ein Navi, wir fahren nach Karte und kommen ganz gut klar. Unser Ziel liegt etwa zwanzig Kilometer von Limoges entfernt. Richtung Lelac fahren wir von der Autobahn ab. Lelac ist ein kleines Städtchen. Von dort aus geht es nach Long. Das ist ein mittelkleines Dorf. Von dort aus nach Mieux, das sieht noch kleiner aus. Danach kommen nur noch Gebinde, die so klein sind, dass ich kein Wort für sie habe. Pissnest fällt mir ein, aber das wäre ja unhöflich.

Mon Village heißt das Nest, in das wir wollen. Das ist auf keiner Karte, die man in Deutschland, in Paris oder an der Autobahn kaufen konnte, also fragen wir uns durch. Irgendwann stehen wir in einem anderen Nest und wissen nicht weiter. Also fragen wir noch einmal. Er ist kein älterer Herr, er ist ein alter Mann mit einem überschaubaren Restbestand an Zähnen. Und er findet uns offensichtlich ganz lustig. Er informiert uns:

Alors là, vous vous êtes TOTALEMENT gourrées.

Sie haben sich TOTAL verfahren, Sie sind hier VOLLKOMMEN falsch.

Mon Village liegt nämlich etwa fünf Kilometer weiter. Zum Glück sagt er uns auch noch, in welche Richtung.  Und ich finde schweigend, dass fünf Kilometer daneben bei tausend Kilometern Anfahrt das Kriterium von TOTALEMENT daneben nicht erfüllt.

Überall ist Wasser, in Seeform oder in Bachform, überall ist es grün, die Sonne scheint und es ist zauberhaft. Mon Village finden wir auch. Dieses Nest hockt in Form einer Schnecke an der Flanke eines größeren Kammes. Bei Jean Michels Hütte angekommen, ist  man auf einer Senkrechten mit dem Ortseingang, nur eben unten und nicht oben. Dazwischen liegt der Rest vom Nest. Später erfahre ich, dass so etwas hameau heißt: Weiler. Die letzten Weiler sind mir zwanzig Jahre zuvor im Studium begegnet, als es um das Mittelalter ging.

Wir richten uns in dem Häuschen mit 15m² Wohnfläche ein so gut es geht.

Jean Michels  Grundstück ist ein Zaubergarten ganz unten im Tal. Wunderhübsche Bäume, Blumen, ein eigenes Bächlein, bilderbuchgrünes Gras; alles blüht, summt und sommert vor sich hin. Von den Nachbargrundstücken ist es kaum einsehbar.

Wir nehmen ein entspanntes französisches Landleben auf, ruhiger Rhythmus, gutes Essen und schöne Ausflüge.

Nebenbei streichen wir Jean Michels Hütte, das Holz braucht Pflege und er hatte mich um Hilfe gebeten. Jean Michel  ist Künstler, ich bin im zweiten Beruf Handwerkerin, die Rollenverteilung ist also geklärt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er sich beim Öffnen eines Gartentores durchaus den Finger brechen könnte.

Grinsend erinnere ich mich, dass das, als wir zusammen waren, ein Konfliktpunkt war. Gitarristen können nämlich nicht Geschirr spülen. Wegen der Nägel. Ich fand ja, dass sie dann wenigstens abtrocknen könnten. Aber das macht man in France nicht unbedingt, man lässt das Geschirr so trocknen.

Anne, die sonst nie braun wird, wird braun.

Es sind nicht die großen Ausschläge hier, es ist das kleine Leben. Aber es ist das schönste Licht, das ich je gesehen habe. Tagsüber golden, abends dunkelgolden mit Apéritif. Nachts zwanzig Milliarden Sterne, Mond und Milchstraße.

Bei einem der Apéririfs spinne ich herum. Ich möchte die gleiche Hütte, aber nicht aus Holz, und nicht so weit unten. Ich brauche einen vue, eine Aussicht und abends geht mir auf Jean Michels  hübscher Terrasse die Sonne zu schnell unter. Und ein bisschen mehr Wohnfläche dürfte es auch sein. Er hat mir erzählt, was er bezahlt hat und ich weiß, dass ich es mir leisten könnte. Es liegt im Bereich Mittelklassewagen.

In den nächsten Tagen frage ich die Teile der Dorfbevölkerung, die ich treffe, ob es hier noch etwas zu verkaufen gibt. Gibt es nicht. Schade.

An unserem letzten Tag ist es sehr heiß, fast vierzig Grad. Dafür gibt es als beste Lösung einen sehr schönen Badesee in dreißig Kilometern Entfernung. Da waren wir schon, er verströmt einen wunderbar altmodischen Charme. Anders als an anderen französischen Gewässern wird hier auf jede Form der animation verzichtet. Wenn man rechtzeitig kommt, sieht es so aus:

Später sitzen die ganz Kleinen dann unter der Aufsicht ihrer Eltern im Sand und backen Kuchen, die Mittelkleinen fahren Boot oder planschen im Wasser, die Pubertierenden spielen Volleyball und alle anderen sind faul und lesen. Alle essen gelegentlich ein Eis und holen sich am Kiosk einen Kaffee oder eine Cola.

Obwohl ich wirklich gerne hier bin, kann ich mich heute überhaupt nicht entspannen. Irgendetwas treibt mich um. Ich habe das Gefühl, ich sollte zu Jean Michels Hütte zurückkehren; es ist, als würde sie mich rufen. Haben wir alles ordentlich zurückgelassen, auch den Kanister mit dem Diesel zum Reinigen der Pinsel? Bei der Hitze und der Sonneneinstrahlung sehe ich das kleine Holzhaus schon brennen, weil wir irgendwas am falschen Platz haben liegen lassen. Es hilft nichts. Ich muss wohl fahren.

Ich informiere Anne über meinen Gemütszustand. Ihr ist es egal.

Wenn Du das tun möchtest..., sagt sie und bleibt mit ihrem Buch im Halbschatten.

Mangels Klimaanlage habe ich alle Fenster offen und singe laut vor mich hin, es war ein schöner Urlaub. Französische Landstraßen sind wundervoll. Ich fahre ziemlich schnell. Niemand außer mir ist unterwegs.

In Mieux angekommen nehme ich den Fuß vom Gas. Das ist auch gut so, denn vor der Bäckerei springt ein Junge mit Harry-Potter-Brille vor mein Auto, um mich anzuhalten. Er ist scout, Pfadfinder und seine kleine Truppe döst im Schatten des Gebäudes vor sich hin.

Madame, s'il vous plaît, wir müssen in einer halben Stunde oben in Long sein. Es ist doch so heiß und Sie haben genau das richtige Auto.

Ich muss lachen, er hat so viel Verzweiflung in der Stimme, der wird mal ein guter Schauspieler. Oder Politiker.

Die Truppe besteht aus etwa sieben Jungen im Alter von etwa zwölf Jahren mit Gepäck. Ich traue meinem Auto einiges zu, aber dieses Fähnlein Fieselschweif hat ein ganz ordentliches Volumen.

Um nach Long zu kommen, muss man sieben Kilometer bergauf und dazu hätte ich jetzt auch keine Lust.

Wenn es euch gelingt, euch da rein zu quetschen, fahre ich euch hin.

Zwölfjährige Jungs gibt es in vielen Formaten. Die beiden Großen setzen sich übereinander auf den Beifahrersitz, die anderen fünf und das Gepäck stapeln sich nach hinten. Gepäck unten, Jungs oben. Die sieben Zwerge haben sich in zwei Minuten verstaut und ich lade sie pünktlich in Long ab. Sie schwören ewige französisch-deutsche Freundschaft. Ist mir recht.

In Mon Village angekommen darf ich nicht bis vor unseren Gartenzaun. Die Nachbarn bitten mich, in ihrem Hof zu parken, denn sie erwarten eine Lieferung Feuerholz und brauchen dafür den Weg. Ist mir auch recht.

Ich mache den geplanten Kontrollgang um Jean Michels Hütte. Es ist alles in Ordnung, die kleinen Preußinnen haben gut gearbeitet und alles ordentlich weggeräumt. Was also hat mich so umgetrieben?

Ich bin jetzt zwar beruhigt, was Jean Michels Besitz angeht, aber verwirrt, was die Ursache für meine Unruhe angeht. Es wird die Hitze sein.

Als ich gerade wieder zum See fahren will, spricht mich die Nachbarin an. Es gebe doch etwas zu verkaufen, sie hätte das vergessen, aber ihr mari, ihr Ehemann, hätte sie daran erinnert. Da drüben auf der anderen Straßenseite sei noch so eine Hütte. Sie zeigt sie mir. Die Hütte duckt sich hinter einem terrassierten Vorgarten in den weiter abfallenden Garten, deswegen habe ich sie noch gar nicht wahrgenommen.

Sie ist hinter ihrer Gartenmauer kaum zu sehen, wenn man zu Fuß vorbeikommt. Vom Auto aus sieht man sie gar nicht.

Hat mich doch ein Haus gerufen?

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

Read more posts by this author.

Bonn