4 min read

Einleitung 1:

Wer keine Einleitungen mag, würfelt bitte eine zwei und geht nicht über Los, nicht ins Gefängnis sondern direkt weiter zur Geschichte. Wichmänner machen gerne Einleitungen und der Großmeister war mein Vater. Seine Einleitungen waren so lang, dass das Publikum einschlief, kurz mal was essen musste, ihn unterbrach oder einen kurzen Spaziergang machte. Meine Mutter hat es wahnsinnig gemacht: Komm endlich zur Sache. Den bisher besten Umgang damit hat Heinz bewiesen. Als mein Vater einmal anhub: Also im Zweistromland..., sagte Heinz: Also im Irak? und kürzte damit die Einleitung mit drei Worten um 2000 Jahre ab.

Einleitung 2:

Ich habe heute meine Wohnung tiefengeputzt, so eine Art umgekehrter Frühjahrsputz. Nach dem langen Sommer, in dem ich viel unterwegs war, gedenke ich hier wieder zu wohnen. Seit sechs Monaten höre ich us-amerikanische Nachrichten auf You-Tube und beim Putzen schaltet sich das Programm selbst weiter. Ich bin also irgendwann bei der PBS News-Hour gelandet, einer der besseren Nachrichtensendungen. Es gab auch Waldbrände in Kalifornien, den neuesten Schwachsinn des Präsidenten und Corona. Aber Judy Woodruff formulierte gegen Ende der Sendung einen Satz, der mich beim Fenster putzen innehalten ließ:

  • Manchmal ist die Geschichte hinter einem Kunstwerk schöner als das Kunstwerk selbst.

Die Geschichte

John Singer Sargent ist offensichtlich ein berühmter amerikanischer Maler. Das wusste ich nicht, aber es freut mich ihn kennenzulernen. Er hat sehr überzeugende Protraits gemalt.

Er konnte gut mit Licht und Schatten umgehen und seine Art Stoffe zu malen finde ich berauschend. Er wurde gebeten im Kunstmuseum von Boston eine Kuppel auszumalen und es wurde ein griechischer Götterhimmel. So wurde er zum Gestalter der öffentlichen Kunst in Boston.

Im Jahr 2017 entdeckte einer der Kuratoren des Museums, dass das Modell für ALLE diese idealen weißen Götter in diesem Himmel EIN einziger Mann war: Thomas McKeller, a black man.

Der Kurator hat im Inventar des Isabelle Stewart Gardner Museums zufällig eine Sammlung von Skizzen entdeckt und diese sind die Vorlagen für die Gemälde.  Das Museum hat dem Mann, der den Künstler inspirierte, eine Ausstellung im gewidmet. Er war schön wie ein junger Gott. Damit er aber ins Gemälde durfte, musste er erst weiß werden.

Die dritte Skizze zeigt, wie Singer Sargent oben rechts erst McKellers Gesicht zeichnet, dann unten rechts die Kopie eines berühmten Apollo-Bildnisses und dann beide übereinanderlegt. So wird aus Thomas McKeller der Apollo von Boston.

Thomas McKeller hat acht Jahre mit Singer Sargent zusammengearbeitet. Alle Bezüge zu ihm waren ausgelöscht, bis der Kurator den o.g. Fund machte und ihm seine Geschichte zurückgab. McKeller war völlig unterbezahlt und der Maler wurde fürstlich entlohnt.

Die Frage, ob die Beziehung der beiden weiterging als eine reine Arbeitsbeziehung, wird auch gestellt angesichts der ungebremsten Erotik der Skizzen.

Hinweise gibt es schon. Der Maler galt als homosexuell und in McKellers Familie wurde von ähnlichen Neigungen erzählt. Und dann gibt es ein Bild. Es war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sondern hing im Atelier von Singer Sargent. Und dieses Mal ist es keine Skizze sondern eine Ausarbeitung, die er in keinem Museum seiner Zeit hätte ausstellen können, für die er keinen Auftrag hatte, kein Geld bekommen hat und die er trotzdem mit viel Zeit kunstvoll ausgeführt hat. Er hat sonst keine Akte gemalt.

Na ja, oder?

Ich finde die Pose und den Gesichtsausdruck verstörend.

Der Kurator sagt in einem der Videos, dass diese Geschichte ihn sehr berührt, weil sie so voll ist von Rassenproblematik, Klassendenken und Sexualität. Das bringt es für mich auf den Punkt und darum erzähle ich sie euch. (Heute sogar mit Abspann.)

Bei Youtube gibt es unter dem Stickwort Boston's Apollo acht kurze Videos zu der Ausstellung. Ich empfehle sie alle, weil jedes mindestens ein neues Detail enthält. Für meinen Post habe ich dieses ausgesucht:

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

Read more posts by this author.

Bonn