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Der Termin ist am frühen Nachmittag in Mieux, Avenue du Lac. Ich arbeite vorsichtig, damit ich nicht wieder so schmutzig werde. Das Kaminfeuer brennt den ganzen Tag fröhlich vor sich hin, daran könnte ich mich gewöhnen. Die Sonne scheint. Ich beschließe, mittags in einem kleinen Restaurant in Mieux zu essen und mir einen Moment Ruhe, Sauberkeit und Luxus zu gönnen. Ich möchte ein Essen, das ich nicht planen, nicht einkaufen, nicht kochen und dessen Logistik ich hinterher nicht spülen muss.

Das mit dem Essen ist hier so eine Sache. Die Qualität meiner Mahlzeiten ist der meiner Unterkunft diametral entgegengesetzt. Ich esse wie eine Königin. Der nächstgelegene Supermarkt hat eine Angebotstheke, in der Waren, deren Mindesthaltbarkeitsdatum sich nähert, für den halben Preis verkauft werden. Diese bestimmt meinen Speiseplan: Huhn, Ente, Perlhuhn, Stubenküken, Wachteln, Kapaun, Hase, Kaninchen, Wild, frische Nudeln, asiatische Gerichte, Lamm, Kalb... Wir sind ungefähr zwei Stunden von der Atlantikküste entfernt und Fisch und Meeresfrüchte gibt es ständige frisch und in einem breiten Angebot. Ich bin tausend Kilometer entfernt von der deprimierenden Langeweile eines deutschen Supermarktes.

Hier im Limousin wird kein Wein angebaut sondern Kühe gezüchtet. Das Limousin-Rind gilt als einer der besten Rindfleischlieferanten der Welt. Es ist ein ausgesprochen hübsches Tier, rotbraun, mit sehr schönen Augen, langen Mädchenwimpern und einem Blick voller Vertrauen. Es schmeckt ausgezeichnet und das Rot-Braun macht sich sehr hübsch auf der grünen Wiese.

Das Städtchen zwanzig Kilometer im Norden von mir, Leulac, ist für die Qualität seines Lammfleisches berühmt. Weiter im Norden ist die Loire, im Westen Bordeaux,  guten Wein gibt es hier also auch. Mein Lieblingsessen in diesen Ferien ist Lammkotelett mit flageolets (vor der Reife geerntete Dicke Bohnen) und Baguette. Das geht schnell, ist in meiner Küche ohne Ausstattung leicht herzustellen und hinterlässt keine Reste. Na ja, nichts, was ich koche hinterlässt Reste, ich habe ständig Hunger. Einen Kühlschrank habe ich noch nicht, meine Lebensmittel stehen also vorläufig auf dem großen flachen Granitstein vor dem Küchenfenster.

Da die Katzen das aber auch bald raushaben, kann ich hier nicht viel lagern. Wenn man den Bratensatz der Lammkoteletts mit Sahne aufkocht, hat man eine aromatische Sauce und satt wird man auch. Wenn ich dieses Essen mit einem Glas Wein im Sonnenuntergang zu mir nehme, ist alles gut in meiner kleinen Welt. Dick zu werden, habe ich im Moment keine Angst, ich habe eher Angst vor dem Verhungern.

Das kleine Restaurant in Mieux in der Nähe der Kirche heißt Le Légendaire. Legendär finde ich zunächst einmal die Größe des Hundes, der mich begrüßt und der mir, als ich mich setze, freundlich den riesigen Schädel auf den Oberschenkel legt. Der Inhaber ist sichtlich überrascht, einen Gast am Tisch vorzufinden, eine Karte und etwas zu trinken bekomme ich aber trotzdem. Ich bitte ihn, den Hund von mir abzuziehen. Er nimmt ihn mit in die Küche. Die Karte ist eine große Enttäuschung, ein Restaurant ist das hier nicht, eher eine Snackbar. Meine Zeit ist etwas knapp, also entscheide ich mich für einen croque monsieur. Bei Wikipedia heißt es:

Croque (von französisch: croquer = knacken, krachen, beißen) ist die französische Variante des Sandwiches. Erstmals nachweisen lässt sich dieser Imbiss auf der Speisekarte von 1910 eines Pariser Cafés. Die erste literarische Erwähnung von „Croques Monsieur“ findet sich in Marcels Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von 1918.

Ein Croque Monsieur sind zwei Scheiben Toast oder Brioche, dazwischen gekochter Schinken. Das ganze wird mit Béchamelsauce überzogen und mit Käse überbacken. Wenn noch ein Spiegelei darüber gelegt wird, heißt es croque madame. Das fand ich in meiner Au-Pair-Mädchen-Zeit mal sehr lustig. In einem Pariser Café braucht der Kellner sechs Minuten um diese 800-Kalorien-Mahlzeit auf den Tisch zu stellen. Meist gehört noch ein Salat dazu, es schmeckt sehr gut, macht lange satt und teuer ist es auch nicht. Seit vielen Jahren rettet dieses Essen Au-Pair-Mädchen, Studentinnen und hungrige Paris-Touristen. Gibt es eigentlich eine Sparte für solche Mahlzeiten im UNESCO-Weltkulturerbe?

Hier brauche ich die sechs Minuten schon, um den Inhaber wiederzufinden und die Bestellung aufzugeben. Der Preis dafür ist, dass ich den Hund wieder am Oberschenkel habe. Zwanzig Minuten später habe ich immer noch nichts zu essen, ich muss anfangen zu drängeln, sonst komme ich zu spät. Weitere zehn Minuten später hat er dann endlich meine Mahlzeit zusammengebastelt. Zeit, sie in  Ruhe zu mir zu nehmen, habe ich jetzt nicht mehr. Ich hasse es zu spät zu kommen und werde für einen croque monsieur nicht meine Herkunft verleugnen. Ich bitte Monsieur, den Hund jetzt mal definitiv zu entfernen. Dieses Mittagessen hatte ich mir etwas anders vorgestellt. Schmecken tut es übrigens auch nicht besonders. Ziemlich unwillig knalle ich das Geld auf den Tisch und gehe zur Notarkanzlei schräg gegenüber. Le Légendaire ist wenig später verschwunden.

Dort bin ich erst einmal allein. Fünf Minuten nach dem vereinbarten Termin kommt eine Unbekannte, die sich als Assistentin des Notars vorstellt. Maître Corivaud werde sich ein wenig verspäten, auf einer der Ausfallstraßen aus Limoges empörten sich die Rentner. Irgendein Wahnsinniger habe vorgeschlagen, das Rentenalter in Frankreich auf zweiundsechzig anzuheben und hat damit das ganze Land gegen sich aufgebracht. Als ich ihr erkläre, dass ich mit zweiundsechzig ganz zufrieden wäre, da für mich ein Rentenalter von siebenundsechzig vorgesehen sei, ist sie sehr erschrocken über so viel Barbarei. Inmitten dieses Gespräches ruft mich die Tochter an. Sie kämen etwas später, auf ihrer Ausfallstraße streiken die Milchbauern.  

In der Zwischenzeit hat sich die Assistentin ausführlich nach dem Wohlbefinden meines Nachbarn von gegenüber erkundigt, der offensichtlich Jean-Paul heißt. Nachdem ich ihr alle Auskunft gegeben habe, zu der ich in der Lage bin, erledigen wir dann noch den notwendigen Papierkram. Die Bank hat Wort gehalten, das Geld ist da. Dreißig Minuten später sind wir dann vollständig.

Der Notar hat ein Rotweingesicht, lange graue Locken und einen Taillenumfang, der auf häufige und ausgedehnte Restaurantbesuche schließen lässt. Wie in Deutschland wird auch in Frankreich der Kaufvertrag verlesen. Maitre Corivaux garniert die Märchenstunde mit politischen Ansichten und lustigen Kommentaren, es ist sehr unterhaltsam und ich habe nicht im geringsten das Gefühl bei einer ernsthaften Angelegenheit dabei zu sein. Ich erfahre bei der Vorlesestunde mit dem netten Onkel Notar, dass meine graue Hütte denkmalgeschützt ist, ebenso wie das gesamte Dorf. Daraus ergibt sich eine ganze Flut von Dingen, die ich nicht darf. Anbauen, umbauen, aufstocken, Fenster in einem anderen Format einbauen darf ich nicht und in der Farbauswahl für die Außengestaltung habe ich mich an die ortsüblichen Gepflogenheiten zu halten.

Das betrifft besonders die Farbe der Fensterläden. Völlig empört erzählt er, neulich habe er einen Hauskauf betreut, bei dem man dem neuen Besitzer vorgeschrieben habe, die volets, die Fensterläden BLEU zu streichen, obwohl man in der Gegend von Mieux noch nie blaue Fensterläden gesehen habe. Ich freue mich, mich der allgemeinen Empörung begründet anschließen zu können. Denn das mit den Fensterläden habe ich schon verstanden.

Man macht Harmonie oder geschmackvollen Kontrast zur Fassade. Die Fensterläden sind also braun oder in einer sehr hübschen Farbe, die auf französisch vert amande, Mandelgrün, heißt, gestrichen. Diese Farben ergeben eine sanfte Harmonie mit den malerischen Bruchsteinfassaden. Alle anderen, meine auch, sind in einem dunklen Ochsenblutton, rouge basque,  gestrichen, der in einem sehr hübschen Kontrast zur Fassade steht. Die Fensterläden dienen auch zuverlässig zur Identifizierung von Nachbarn, die man noch nicht kennt: Der mit den grünen Fensterläden? Oder kürzer: Die grünen Fensterläden? Alternativ nimmt man den Hund, der vor dem Haus Radau macht: Der mit dem Dobermann? Oder kürzer: Der Dobermann?

Also BLAU geht jedenfalls gar nicht, das können die in Schweden machen oder in Griechenland.

An einen Anschluss an ein öffentliches Kanalisationssystem hätte ich nach europäischer Gesetzeslage zwar einen Anspruch, aber daran sei in den nächsten zweitausend Jahren nicht zu denken, denn dafür müsste man das Dorf sprengen, das auf einem riesigen Granitfelsen gebaut ist. Weder meine Abwasserentsorgung noch meine Hauselektrik seien dans les normes. Ich möge mich darum kümmern und bitte im Garten nichts anpflanzen, was nicht in die Gegend passt. Zum Abschluss gehen die Ladies und ich noch etwas trinken.  

Ich bin etwas beschwipst, als ich wieder beim Gartentor ankomme. Zur Begrüßung bricht mal wieder ein Stückchen davon ab.

Als ich den Fuß auf den Boden dahinter setze, schlägt es mir durch die Schuhsohle direkt ins Herz: Meins.

Achthundert Quadratmeter Frankreich gehören jetzt mir. Ich habe ein Zuhause. Das Gefühl ist nie wieder weggegangen.

 

 

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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