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Am frühen Nachmittag dieses Dienstags im Herbst 2009 treffen wir uns erneut an der Gartenmauer. Die Sonne scheint und in der klaren Herbstluft sieht das Ensemble immer noch schäbig aus. Die Mutter redet immer noch so viel, die Tochter ist immer noch so schön.

Wir machen gemeinsam le tour du propriétaire, der Besitzer zeigt einem Gast oder Käufer sein Anwesen. Die Luft ist so klar, dass man meint, an den Bäumen auf dem gegenüberliegenden Mittelgebirge die Blätter zählen zu können.

Die große Holzhütte im unteren Teil des Gartens sehen wir uns bei diesem Rundgang genauer an. Sie umbaut einen Raum von zirka dreißig Quadratmeter. Fünfzehn davon sind dem Brennholz gewidmet, die anderen fünfzehn teilen sich das Plumpsklo und das husbands hole. Ja, ich weiß, das habe ich schon erzählt.

In der französischen Pampa, und französische Pampa gibt es reichlich, ist eine toilette au fond du jardin nicht unüblich. Viele Haushalte haben kein Badezimmer. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Ein Badezimmer ist als solches schon eine teure Angelegenheit. Die Besiedelung der ländlichen Gegenden besteht aus kleinen und kleinsten Gruppen von Häusern in ziemlich großem Abstand voneinander. Sie an eine Kanalisation anzuschließen, würde bedeuten, dass man ganz Frankreich umgraben müsste. Dazu sind die Franzosen grundsätzlich auch bereit, aber nur um etwas zu essen oder Wein anzubauen. Strom und Telefonkabel sind überirdisch verlegt, nur Wasser kommt unter der Erde, weil es nicht anders geht. Und für den Rest muss man sich etwas einfallen lassen. Viele Küchen, auch Restaurantküchen, werden mit Propangasflaschen betrieben. Jeder Frankreichtourist kennt die ländlichen Tankstellen, an denen in großen Mengen dieser Gasflaschen feilgeboten werden. Und für das Abwasser muss man eine fosse septique anlegen lassen, eine Sickergrube. Auch die ist teuer, also überlebt das Plumpsklo.

Die Tür an diesem Plumpsklo ist aus Pressspan. Das wundert mich ein wenig, denn meines Wissens ist Pressspan nicht witterungsbeständig. Die Tür weiß das selbst auch und befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung. Als Madame den Riegel betätigt, der die Tür schließt, fallen die Schrauben und der Riegel ins Gras. Sie blickt kurz nach unten.

- Ich finde sie jetzt so schnell nicht wieder, da werden wohl neue Schrauben gebraucht.

Das scheint mir ein bisschen verwegen, an dieser Tür gibt es keinen Quadratmillimeter Material, der noch eine Schraube halten könnte. Was mich zum inneren Dauerlächeln bewegt, ist, dass sie mir das ganze Anwesen in einem Sprachstil präsentiert, der zu Scarlett O'Haras Zuhause in Vom Winde verweht passt, aber nicht zu dem, was ich sehe. Vielleicht nenne ich es Tara, wenn ich fertig bin.

Schwungvoll wird die Tür zum Plumpsklo geöffnet und gibt ein unerwartetes Bild frei. Ich sehe ein großes Holzbrett, auf dem eine Klobrille montiert ist. Darunter hält sich üblicherweise ein Eimer auf, Jean-Michels toilette sèche ist auch so konstruiert. Diese Klobrille ist umgeben von flauschigem, ehemals dunkelgrünen Teppichboden, der jetzt völlig verrottet ist. An die Rückwand hat jemand eine Platte genagelt. Ich kenne das Material nicht, aber es ist eine Wandverkleidung, die blaue Fliesen imitiert. Hier hat sich jemand wirklich Mühe gegeben.

Was ich mit der Hütte anfangen werde, weiß ich noch nicht. Meine Toilettenlösung ist kein Plumps- sondern ein Campingklo. Mir hat mal jemand gesagt, das Wort Klo solle ich nicht verwenden, aber es gibt keine Plumpstoilette, oder?

Als Madame unter Beseitigung neuer Spinnenweben die Tür zur Haupthütte öffnet, überzieht ein filmreifes verträumtes Lächeln ihr Gesicht.

- Ah, ich erinnere mich. Immer, wenn wir kamen, haben wir erst einmal gründlich geputzt. A chaque fois qu‘on venait, c’était le grand ménage.

Ich gucke sie verdutzt an und denke mir ...bei den Nachbarn, denn hier kann es nicht gewesen sein. Es ist nach wie vor unglaublich schmutzig. Jetzt darf ich den Sperrmüll, der bald mir gehören wird, ausführlich würdigen.

Ein runder weißer Plastikgartentisch mit zwei passenden Stühlen. Ein roter Resopaltisch auch mit Stühlen. Ein dreitürigerKleiderschrank, Marke Elefantensarg. Ein 50er-Jahre Küchenbuffet aus plastikbeklebtem Pressspan. Ein wirklich sehr brauchbarer Gasherd. Eine beschädigte Keramikspüle, die auf einem verrotteten Unterschrank ruht. Ein Boiler, den Madame nicht in Gang bekommt. Die künstlichen Blumen sind alle noch da. Ein kleines Holztischchen mit allerlei Sprühdosen darauf. Spitzengardinchen, die mit der Blümchentapete eine heitere Landhausatmosphäre erzeugen sollten. Diese ist im Moment etwas beeinträchtigt.

Wieder in Deutschland zeige ich meiner Freundin Klara ein Foto von der nach Westen gerichteten schmalen Wand, so wie ich sie vorgefunden habe. Blumen hat's. Die künstlichen von Madame, die auf der herbhängenden Tapete (altrosa auf altweiß) und die, die die Feuchtigkeit dahinter auf die Gipswände gemalt hat (dunkelgrau auf altweiß). Davor ist ein Stromkabel irgendwie an die Wand genagelt, ein schönes schwarzes, damit man es auch gut sieht. Links in der Ecke ein geblümter Gartenklappstuhl (knallbunt auf hellblau, ca fait joli). Von oben baumelt ein Fernsehkabel über dem Stuhl.  Grundrichtung des Bildes ist: abwärts.

Sie grinst und sagt:

- Das könnte auch im Museum hängen. Es drückt sehr schön die Zerrissenheit des modernen Menschen aus, der zwischen dem Gestern und dem Morgen seinen Platz im Heute nicht findet.

Der Titel des Bildes könnte dann Trostlos sein, da sind wir uns einig.

Was mein Herz singen lässt, ist nach wie vor der Kamin. Man versichert mir, dass er gut zieht. Ich freue mich so sehr auf mein erstes Feuer.

Mutter und Tochter trollen sich endlich, ich schließe das verrottete Gartentor hinter ihnen und schwöre, dass sie nie wieder einen Fuß auf dieses Grundstücks setzen werden.

Die jahrelange Zugehörigkeit zu katholischen Pfadfinder- und evangelischen Jugendgruppen und eine große Affinität zu deren Lagerfeuern haben bewirkt, dass ich Feuer machen kann. Die großen staubigen Kiefernzapfen und die künstlichen Blumen aus Papier brennen sofort. Unten im Schuppen ist viel Brennholz. Es wird Zeit, den Arbeitsanzug anzuziehen.

Der Kamin zieht tatsächlich sehr gut. Ich gönne mir eine Pause mit einer Zigarette und einem Schluck Whisky. Der Reisewhisky ist eine alte Angewohnheit der Urlaube mit Klara. Er kommt nicht oft zum Einsatz, aber es ist immer gut, ihn dabei zu haben.

Ich genieße das Feuer und das schöne Licht, mein Blick wandert. An der schmalen Ostseite war die Küche platziert, das werde ich auch so machen, dort ist die Spüle. Die Küchenwände sind mit einem ähnlich obskuren Material verkleidet wie das Plumpsklo. Hier werden Fliesen in beige imitiert. Wieder wurden zur Befestigung Unmengen von Nägeln verwendet. Der Erbauer hatte wohl eine Nagelmaschine und hat sie geliebt.

Es zeigt sich, dass die Sprühdosensammlung auf dem kleinen Holztisch eigentlich die Waffenkammer ist. Gegen jedes denkbare Insekt findet sich ein eigenes Mittel. Gegen Insekten, die von unten nach oben kriechen und gegen die, die von oben nach unten kriechen, gegen fliegende und stechende Insekten und gegen Spinnen, die ja keine Insekten sind, wie man mich mehrfach belehrt hat. Wenn ich das alles hier versprühe, bin ich selbst tot. Und mit welchem anderen Ungeziefer ich noch zu rechnen habe, werde ich nach und nach herausfinden. Ich hoffe sehr, dass die Methode Putzen-Lüften-Heizen, die ich zu Hause gelernt habe, die meisten der Gifte überflüssig macht.

Ich stelle mein Auto rückwärts auf den Parkplatz, der zur Hütte gehört und lade zuerst erst einmal gar nichts außer dem Blaumann und dem Putzzeug ab. Wenigstens, da wo das Bett steht, sollte es sauber sein. Ich habe mich immer gewundert, warum meine Mutter bei unseren zahlreichen Umzügen die Wohnungen jedes Mal so gründlich geputzt hat, bevor wir gegangen sind. Jetzt weiß ich es. Wenn du jemand anderem deinen Dreck hinterlässt, spricht er irgendwann laute Flüche über dein Haupt, während er ihn wegmacht.

Ich bekomme den Boiler auch nicht in Gang, habe aber einen Wasserkocher mitgebracht. Der Fußboden ist aus Linoleum, nicht hübsch aber auch nicht unpraktisch. Es braucht viele Eimer heißes Seifenwasser, bis der Feudel keinen Dreck mehr aufnimmt. Ich reiße so viel Tapete ab, wie von allein heruntergeht. Davon werden die Wände nicht hübscher, aber es sieht irgendwie weniger trostlos aus. Dahinter neue Feuchtigkeitsblumen.

Irgendwann kann ich dann die Klappcouch und die Matratze abladen und rudimentär meine erste Nacht vorbereiten. Holz muss ich auch noch holen. Die Sonne ist schon untergegangen, ich muss also die Taschenlampe mitnehmen. Als ich die Tür zum Holzschuppen öffne, raschelt und trippelt es in jeder Ecke. Die Scheite sind ziemlich groß, also muss ich die Taschenlampe weglegen und mit beiden Händen beherzt ins Dunkel greifen in der Hoffnung, dass nichts über meine Hände läuft, das mich beißen will. Arbeitshandschuhe mitzubringen, habe ich vergessen. Allzu zimperlich werde ich mich hier nicht anstellen dürfen.

Um mich gründlich zu waschen fehlt mir heute Abend die Courage. Ich werde morgen schwimmen gehen.

Habe ich Angst vor der ersten Nacht?  Ja, ein bisschen schon. Aber ich habe ja keine Wahl.

Unsere kluge WG-Psychologin aus alten Zeiten hat mal gesagt:

-     Angst resultiert häufig aus einem Mangel an Informationen.

Das trifft es hier genau, Informationen habe ich gar keine, ich weiß überhaupt nicht, worauf ich mir hier eingelassen habe. Wie kalt wird es nachts wohl werden? Ich habe nur den Kamin und es ist Mitte Oktober. Wird das ganze Geziefer nachts lebendig und über mich herfallen? Mit Einbrechern ist wohl nicht zu rechnen. Trotzdem platziere ich die große Maglite für alle Fälle direkt neben meinem Kopf.

Das einzige, was mir hier Vertrauen einflößt ist das Feuer, das ich immer größer werden lasse. Ich versuche es so aufzubauen, dass es die ganze Nacht hält. Irgendwann beruhigt es meine Nerven, vielleicht ist es auch die ganze Flasche Rotwein, die ich im Laufe des Abends getrunken habe. Ich schiebe das Bett direkt vor den Kamin und vertraue, wie viele Generationen vor mir, darauf, dass das Feuer die wilden Tiere schon fernhalten wird.

Die Nacht war ruhig, das Feuer ist aus. Es ist kalt. Mir ist kalt. Zitternd renne ich zum Auto, um die Kaffeemaschine zu holen. Der Nachbar von gegenüber ist auch schon wach, steht in seinem Türrahmen, grüßt freundlich und glotzt. Ich verziehe mich mit Kaffee wieder ins Bett bis der Mut reicht, um das Feuer wieder anzumachen.

Den Plan, schwimmen zu gehen, verschiebe ich auf den Abend, es hat keinen Sinn, sich VOR der Drecksarbeit, die mich erwartet, zu waschen. Versonnen kratze ich mich an verschiedenen Stellen, die Suche nach der Ursache des Juckreizes muss bis zum Schwimmbad warten, es ist zu kalt, um irgendetwas auszuziehen. Mir dämmert, dass ich in den ersten Tagen deutsche Hygienestandards wohl nicht halten können werde. Schwimmen gehen kostet Zeit, meine Zeit hier ist begrenzt und es gibt unendlich viel zu tun.

Ich ziehe mich wärmer an und trinke den letzten Kaffee stehend im Garten. Am Gartenzaun nähert sich ein weiterer Nachbar, grüßt sehr freundlich und sagt, dass ich Bescheid sagen soll, wenn ich Hilfe brauche. Ich bedanke mich artig, möchte aber im Moment nur in Ruhe gelassen werden mit meinem Kaffee im Sonnenaufgang.

Den ersten richtigen Tag verbringe ich damit, alle Möbel zu putzen und zu desinfizieren. Im Küchenschrank kleben noch Reste von Tomatensauce. Ich glaube nicht, dass ich schon einmal irgendwo gewesen bin, wo es so schmutzig war. Nach und nach kann ich ein paar Sachen abladen und einräumen, die Anzahl der sauberen Stellen nimmt zu.

Wann und wie ich hier Müll loswerde, weiß ich noch nicht, vorerst lagere ich ihn im Vorgarten angefangen mit der Sprühdosenbatterie. Am Ende meines Tages blitzt die Hütte im Rahmen ihrer Möglichkeiten und mein Vorgarten sieht aus wie eine Müllhalde, die jemand liebevoll mit künstlichen Blumen aus Plastik dekoriert hat.

Heute Abend muss ich mich waschen, denn morgen ist der Notartermin und zu diesem Anlass möchte ich hübsch oder zumindest zivilisiert aussehen.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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