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Es ist für mich schwierig zu sagen, ob in Mon Village sehr viel oder sehr wenig passiert. Eigentlich passiert natürlich überhaupt nichts, aber genau deswegen hat einfach alles eine schwerwiegende Bedeutung. Ich denke, dass das, was ich hier tue, auf Neudeutsch entschleunigen heißt. Ich kann mich ganz tief auf alle Prozesse (putzen, Dreck wegmachen, saubermachen) einlassen. Es gibt nämlich keine Alternative. Keinen Fernseher, kein Radio, kein Internet. Ein neuer Sozialkontakt ergibt sich dank Jean-Michel überraschend schnell. Ich lerne Valérie kennen. Frühe Leser des Blogs kennen sie schon, alle anderen haben hier die Gelegenheit, auf eigene Gefahr die Bekanntschaft einer echten Parisienne zu machen.

Die zweite Woche der Ferien macht Spaß. Ich verbrenne Unmengen von Zeug und mache so die kleine Pyromanin in mir glücklich. Der Zustand, in dem ich mein Häuschen verlasse, gefällt mir ganz gut.

Zurück in Deutschland bringe ich mein ganzes Gepäck ohne Umweg auf den Balkon, entkleide mich dort auch und versenke mich zu Desinfektionszwecken in einer dampfend heißen Badewanne.

Ich fühle mich behindert und überflüssig, nichts zu werkeln, kein Feuer, um das ich mich kümmern muss und um das herum ich existieren kann. In einem Haus mit Kamin weiß man immer, wo das Zentrum ist. Meine innere Kompassnadel hat ihren Norden verloren. Ich kann mich ja nicht nach den Heizkörpern ausrichten. Zum Glück sorgt mein Umfeld ein bisschen für Ablenkung.

Ich habe neuerdings nämlich ein Anrecht auf Kommentare.

  • Da hast du ja ganz schön zu tun in den Ferien. Dazu hätte ICH keine Lust
  • Also MIR wäre das zu weit weg.
  • Dann musst Du ja jetzt immer da hin fahren. Für MICH wäre das nichts.

Braucht ihr ja nicht. Ist ja meine Baustelle. Eine Verdichtung aller dieser Kommentare in einem Gespräch bekomme ich von Renate, der Frau unseres Religionslehrers. Renate hat vom Häuschen gehört und gesellt sich bei einer Kollegiumsfeier zu mir. Das Gespräch hat ein bisschen was von Inquisition, so gezielt und mit so wenig Charme und Anteilnahme sind ihre Fragen gestellt. Ich antworte tapfer und wahrheitsgemäß.

  • Wohnfläche? Garten? Einrichtung? Gesamtzustand? Badezimmer? Anfahrt?

Ihre Reaktionen sind knapp, unmissverständlich und werden mit ebenso wenig Wärme vorgebracht wie die Fragen.

  • Wohnfläche: zu klein
  • Garten: zu groß
  • Einrichtung: zu spartanisch
  • Gesamtzustand: zu kaputt
  • Kein Badezimmer: undenkbar
  • Anfahrt: viel zu weit

Die wichtigste und daher letzte Frage aber ist:

  • Wenn ich frische Brötchen möchte, wie weit muss ich fahren?

Diese Frage ist neu im Repertoire und ich muss zum ersten Mal in diesem Gespräch lächeln. Ich spare mir den Hinweis, dass das deutsche Brötchen in seiner Reinform in Frankreich ohnehin nicht vorkommt.

  • Sechs Kilometer nach Mieux links rum oder sechs Kilometer nach Coladour rechts rum.
  • Muss man denn für alles fahren?
  • Ja, muss man.

Soweit ich weiß ist das auf dem Land immer so, auch in Deutschland. Bei jedem der folgenden Worte klingen mehr Großbuchstaben und Ausrufungszeichen mit, als ich hier aufschreiben möchte.

  • Also DAS wäre mir ja VIEL zu BLÖD!!!!

Ich lächle sie an und überlege, ob sie wohl von selbst darauf kommt.

  • Renate, ich habe eine großartige Neuigkeit für dich: Du wirst da niemals hinfahren müssen.

Der Satz bleibt ungesagt und das Gespräch endet im Nichts.

Einen Kommentar aber gibt es, den ich richtig toll finde. Unser Sportlehrer Rolf, der aussieht wie Tintin, nur eben deutlich über fünfzig, sagt:

  • Um die Arbeit, die du dir da aufgeladen hast, beneide ich dich nicht. Aber um die französischen Supermärkte: wie verrückt.

Endlich mal was, das ich verstehe.

Die Gesamtauswertung über die ersten Monate ergibt, dass die allerwichtigste Frage jedoch nicht die nach den Brötchen ist. Die allerwichtigste Frage und die, die ich sicher auch gestellt hätte, ist:

  • Wie  MACHST du das bloß ohne Badezimmer?

Tja. Zweitausendfünfhundert Jahre Geschichtsschreibung, hundert Jahre Badezimmer.

Alexander der Große errichtet ein Weltreich, die Römer verfolgen die Christen, Aufstieg und Fall nicht nur des römischen Reiches, Leonardo da Vincis unglaubliche Erfindungen, Hexenverbrennungen, Renaissance, Aufklärung, Marie Antoinette, die Niederlage der Highlandschotten gegen die Engländer, Marie Curie...  Und das alles ohne Badezimmer mit Dusche und Klospülung.

Ich bin jetzt leider der Trottel, der die Frage beantworten muss und auch nach längerem Nachdenken habe ich keine bessere Antwort als:

  • Wenn man kein Badezimmer hat, macht man es eben ohne.

Zehn Prozent der Frager möchten gerne wissen, was das bedeutet. Die anderen denken wahrscheinlich, dass ich meine Ferien stinkend verbringe.

Es gibt mehrere Möglichkeiten.

Da ich ohnehin gerne schwimme, gehe ich alle zwei Tage ins Schwimmbad in St. Martin, stelle mich unter die Dusche, gehe schwimmen und stelle mich noch einmal unter die Dusche. Danach bin ich sauber, also erst einmal arbeitsunfähig.

Die Campingwelt hat eine Campingtoilette erfunden, deren Inhalt man in Coladour am Wohnmobilstellplatz kostenlos entsorgen kann. Ob das nicht eklig ist? Geht so, ich denke, jeder, der einmal eine Windel gewechselt hat, überlebt das.

Und wenn ich zu faul oder zu müde bin, nach St. Martin zu fahren, geht es trotzdem. Das Angebot an Abendunterhaltung in Mon Village ist ohnehin sehr begrenzt. Also mache ich das Radio, das ich mir als Belohnung am Ende der Herbstferien gekauft habe, an und entzünde ein großes  Feuer im Kamin. Der Wasserkocher blubbert, ich nehme ein paar Waschlappen, eine Schüssel von der Größe einer Waschschüssel (ach!), Seife und wasche mich. Klingt kompliziert, geht aber gut. Die Haare wasche ich in der Spüle.

Menschen meines Jahrgang kennen vielleicht noch den Film Der einzige Zeuge. John Book, gespielt von Harrison Ford, ein New Yorker Polizist, muss verletzt einige Zeit bei den Amish verbringen. Zwischen ihm und der schönen Amish-Frau, gespielt von Kelly McGillis, knistert es. In einer Szene wäscht sich Kelly McGillis auf die oben beschriebene Weise, und weiß, dass der Held sie beobachtet . Ok, sie nimmt einen Schwamm, der ist schlichter und schöner und sie treibt damit John den Schweiß auf die Stirn und das Blut in die Hose. MIT Badezimmer hätte es diese Szene nie gegeben.

Wenn ich noch zehn Jahre hierbleibe, bin ich bereit für die Weltmeisterschaft in erotischem Waschen vor dem Kamin, wenn ich dann nicht zu alt bin.  

Eines Winterabends, als ich gerade fertig bin, kommt Jean-Michel auf ein Glas Wein vorbei. Er strahlt mich an und sagt:

  • Ich habe mich heute auch gewaschen.

Das ist in Mon Village eine echte Nachricht, die ich durch Nachfragen würdige:

  • Kaltes oder warmes Wasser? Mit Haaren oder ohne?

Wir überlegen, ob wir es der Kommunalzeitung, in der sonst nichts drinsteht, sagen sollen:

20. Dezember 2009

Uns wurden zwei saubere Menschen in Mon Village gemeldet, ein Mann (45) und eine Frau (44). Der Zustand wurde durch Wasser und Seife herbeigeführt.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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