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Im Germanistikstudium habe ich die sogenannte Alte Abteilung am meisten geliebt. Ich habe schon einmal davon erzählt, wie das Glaubensbekenntnis in Althochdeutsche übersetzt wurde und wir vor Lachen unter dem Tisch lagen, als wir uns die Gesichter der Menschen vorstellten, die das zum ersten Mal sagen sollten.

Die Erzähltexte sind geheimnisvoll und zauberhaft, sie erzählen von Gesetzen des Lebens, die wir lange vergessen haben. Die Gebrauchstexte geben uns ein bisschen Aufschluss über das Alltagsleben. Und sie sprechen von Ärzten, bei denen man sicher sein konnte, dass die Patienten nur zufällig überlebten. Den folgenden Text und noch einige mehr habe ich für meine Schwägerin Jutta übersetzt, als sie mit meinem Patenkind schwanger war. Wir waren beide froh, dass sie es im zwanzigsten Jahrhundert zur Welt bringen würde.

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Von der Geburt

Da sprach der Schüler:

Wie kommt es, dass manche Menschen so klein und andere so groß sind?

Der Meister sprach:

Das kommt von der schwächlichen Materie. Unmäßig dicke Leute bekommen leicht gebrechliche Kinder. Denn die Fettleibigkeit erstickt die Materie, davon verdirbt sie. Das kannst du daran sehen: Wenn die Erde mit Mist ertränkt wird, so erbringt sie keinen Überfluss. Er kommt oft so, dass die Menschen von guter Materie sind und sich mit Essen und Trinken überladen. Das Kind, das danach gemacht wird, das kommt von so gebrechlicher Materie, dass es schwach sein muss.

Von dem Kinde vor der Geburt

Da sprach der Schüler:

In wie vielen Tagen wird das Kind im Mutterleib geschaffen?

Der Meister sprach:

Das sind Gottes Geheimnisse, die niemand hören soll, der nicht sehr gebildet ist. Das Kind wird aus der reinen Materie geboren, die vom ganzen Körper angesammelt wird. So hat jedes Weib in sich eine Kammer, die Matrix heißt. Die ist innen rau, damit sie die Frucht besser halten kann. Diese Kammer hat innen sieben Siegel, die wie eine Münze eingegraben sind nach dem Abbild des Menschen.Daher kann keine Frau mehr als sieben Kinder gleichzeitig tragen, es sei denn Gott täte ein Wunder.

Wenn das Kind empfangen ist, so ist es sieben Tage Milch, sieben Tage Blut, sieben Tage setzt es sich zusammen, sieben Tage gestaltet es sich nach dem Gepräge, in sieben Tagen entstehen die anderen Glieder, in fünf Tagen wächst ihm die Haut. So wird der Mensch in vierzig Tagen geschaffen. Daher muss, wer den Menschen erschlägt, sich vierzig Tage reinigen und danach die Sünde mit sieben Jahren Fasten büßen.

Der Text stammt aus der Textsammlung Lucidarius und ist von 1190/95. Natürlich gab es Menschen, die es besser wussten, weise Frauen. Aber die hat man sicherheitshalber als Hexen verbrannt.

Wanderer
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Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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