Ostern 2011 regnet es erst einmal und ich bin genervt und ständig nass. Der gebrauchte Kühlschrank, den ich für 38 Euro in Deutschland gekauft habe, ist kaputt. Ich wollte ihn unbedingt haben, weil es ein Kühlschrank mit Schubladen ist und diese Modelle sehr selten sind. Mit Jacques‘ Hilfe wurde er ins Auto gehieft und zur Reparatur gebracht. Das hat zum Glück geklappt. Aber er muss danach wieder zurückgebuckelt werden. Daür bitte ich Jean-Paul um Hilfe, der sich zuverlässig in seinem Türrahmen aufhält. Das im Limousin übliche Protokoll der Annäherung an einen fremden Haushalt befolgt er bis ins kleinste Detail. Als ich mit dem halben Kühlschrank schon in meiner Küche stehe und er mit der anderen Hälfte noch auf der Veranda, bittet er mich darum, eintreten zu dürfen. Er sieht, bei aller Zuneigung, aus wie ein Penner und er riecht auch so. Aber er hat die Umgangsformen eines Fürsten.
Ich muss ständig rein und raus, habe immer nasse Füße, feuchte Klamotten und eine dreckige Bude. Ich komme nicht wirklich voran, bei so viel Feuchtigkeit kann ich nichts streichen, das trocknet doch nie.
Nach der ersten Ferienwoche klart es auf zu Frühlingswetter mit Sonne und auch bei mir klart die Laune auf. Jetzt möchte ich mal raus aus ins Licht und draußen arbeiten. Zu tun gibt es genug. Mein Plumpsklohaus verrottet leise vor sich hin. Das Feuerholz aus der einen Hälfte des Klohäuschens habe ich verbraucht, es ist Zeit für eine Inspektions- und Reinigungsaktion.
Mir ist bewusst, dass ich jetzt vielen kleinen Nagern ihr Zuhause raube, aber das ist jetzt eben ALLES MEINS.
Mit dem besten Besen der Welt, dem Gummibesen von Aldi, rücke ich den Rückständen von Feuerholz und Kleintieren zu Leibe. Ich mag diesen Besen, weil er seinen Beruf wirklich gut beherrscht und weil man ihn nach getaner Arbeit mit kochendem Wasser behandeln kann und er wieder richtig sauber wird.
Eine meiner Außenfeuerstellen ist schon in Betrieb und es macht jetzt viel Spaß,den ganzen Müll zu verbrennen, in der Sonne zu arbeiten und Pläne für diesen Teil meines Anwesens zu schmieden. Als mein Bruder im Herbst 2010 hier war, hat er sich einen zweiten Platz gewünscht, an dem man sich waschen und rasieren kann. Das haben wir bisher an der Spüle erledigt, es ist aber zu zweit ziemlich umständlich. Ich werde also die Plumpsklohälfte entkernen und ein Freiluftbadezimmer einbauen. Ohne Dach. Jawoll. Und ich werde es meinem Bruder widmen.
Die letzte Schicht Holzspäne weicht meinem Besen und dann stehe ich eine Weile still da, weil ich nicht glauben kann, was ich darunter finde. Bücher. Französische Schulbücher in einem sehr angegriffenen Zustand. Ich blättere ein bisschen, bedauere, dass ich sie nicht behalten kann und verbrenne sie dann mit dem anderen Zeug. Mehr Bedauern kann ich mir aus Zeitnot nicht leisten. Unter der Bücherschicht befindet sich eine Schicht Plastiktüten. Hat ernsthaft jemand gedacht, damit könnte man die Bücher beschützen? Leider kann ich die Tüten nicht verbrennen, sie kommen also auf den ohnehin schon großen Haufen mit Müll für die Müllkippe. Darunter erscheint eine weitere Schicht Bücher. Wieder Schulbücher, ein anderes Schuljahr. Darunter Plastiktüten. Darunter Bücher und wieder Plastiktüten. Es wird Abend und kühl. Ich hätte nie gedacht, dass ich so schnell zum fröhlichen kleinen Bücherverbrenner mutiere. Aber ich hätte so einiges nicht gedachtDreckig wie ich bin setze ich mich ins Auto und fahre ins zu Benji. Ich brauche jetzt einen Schnaps und jemanden, dem ich das erzählen kann. Benji hat eine Bar im Ort, in der man so etwas wie Poulet frites (Brathuhn mit Pommes) essen kann, fernsehen und so einiges andere. Er ist ungefähr 1,90m groß, unglaublich muskulös und von der Herkunft Schwarzafrikaner. Seine Bar heißt Le Big Ben und das trifft den Nagel auf den Kopf.
Benji hört mir aufmerksam zu und, als ich ihm die Frage stelle, was ich wohl morgen unter der letzten Schicht Plastiktüten finden werde, ist er sich ganz sicher:
Entweder einen Schatz oder die Leiche des Vorbesitzers.
Am nächsten Vormittag bin ich am Ende meiner Ausgrabungen angekommen. Unter der letzten Schicht Plastik befindet sich 20-Centimes-Stück, nicht Euro, sondern Francs, das ich als Anfang eines großen Vermögens in die Tasche meines Blaumanns stecke. Meine Waffen für heute sind eine Leiter und das Brecheisen, das Heinz mir zu Weihnachten geschenkt hat. Um mal aus den Stiefeln herauszukommen, bin ich auf ein Paar Plastikgartenclogs, auch von Aldi, umgestiegen.
Alles Überflussige muss raus und das Wellblechdach will ich heute auch noch runterhaben. Nägel sind hier, wie überall auf dem Anwesen, omnipräsent. Es gibt sie in allen Größen, manchmal um etwas festzunageln, manchmal einfach so. Kein Brett mit nicht mindestens fünf Nägeln, kein Stück Wand, das nicht aussieht wie ein Nagelbild. Auch im Feuerholz waren sie, manchmal hatte ich beim Auskehren des Kamins mehr Nägel als Asche. Ich beginne mit den Abrissarbeiten und ich liebe es. Ich freue mich daran, wie geschickt ich das Hebelgesetz einzusetzen weiß (Für die Freunde geflügelter Worte: Ja, Eigenlob stinkt, ich weiß. Aber erstens ist niemand da, um es zu riechen und wer soll mich sonst loben?) und dass es hier jetzt mal so richtig weitergeht. Wenn das Wetter so schön bleibt, kann ich vielleicht noch Holzschutz aufbringen und in der Hütte duschen.
Ganz berauscht von der Sonne, dem Spaß an der Arbeit und den Zukunftsplänen für mein Sommerbad, werde ich unaufmerksam und rutsche von der Leiter ab. (Für die o.g. Freunde und für die Leute, die nie etwas falsch machen: Ja, Hochmut kommt vor dem Fall. Musste ja so kommen. Sie hat’s auch nicht anders verdient.) Ich falle mit vollem Körpergewicht auf den rechten Fuß. Der landet auf einem der Holzbretter, die ich gerade heruntergehebelt habe. Das linke Bein bleibt auf der dritten Sprosse der Leiter, so eine Art Spagat für Idioten und Anfänger. Vorsichtig sehe ich mich um, keine Publikum. Ich lasse den rechten Fuß, wo er ist und berge erst einmal den linken. Als ich den rechten anheben will, merke ich, dass ich nicht wegkomme und schaue an meinem Bein entlang, was nicht besonders lange dauert. Unten angekommen sehe ich etwas, was mir rückwirkend den Magen umdreht. Aus dem roten Plastikgartenclog ragt ein Nagel. Ein riesiger Nagel. Er ist etwa acht Zentimeter lang und hat einen Durchmesser von drei bis vier Millimetern. Er hat beim Auftreten erst die Sohle durchbohrt und dann den oberen Teil des Clogs. Dazwischen liegen zwei Zentimeter Vorsehung, Schicksal oder "Glück gehabt“. Statt meinen Mittelfuß zu durchbohren, hat der spitze Stahgel seinen Weg zwischen dem großen und dem zweiten Zeh gefunden. Ich stehe ein paar Minuten leicht zitternd still und male mir bis auf den letzten Blutspritzer aus, was das alles für Folgen hätte haben können. Ich mach's nicht mehr ohne Sicherheitsschuhe.
Eigentlich wollte ich die Sache in voller Schönheit fotografieren, um sie meinen Schülern und Schülerinnen zu zeigen. Sie finden es immer sehr lustig, wenn ich ihnen meine eigene Geschichten von Dummheit, Leichtsinn und Scheitern erzähle. Und sie wissen, was einem von ihnen geblüht hätte, der sich in meiner Schulwerkstatt so dämlich angestellt hätte. Aber alle Kameras liegen oben in der Hütte und jetzt mit einem siebzig Zentimeter langen Holzbrett am Schuh hundertfünfzig Meter weiter nach oben zu humpeln, so weit geht die Liebe heute nicht. Ich habe heute also leider kein Foto für euch.