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Diese Geschichte ist Linda gewidmet. Sie hat sich eine Geschichte gewünscht, in der ich mich völlig bescheuert anstelle. Kein Problem. Sie war nicht schwer zu finden.

In den ersten drei Jahren, nachdem ich das Häuschen in Mon Village gekauft habe, fahre ich fast ausschließlich mit dem Auto. Es gibt immer reichlich zu transportieren.
Ich bin insgesamt oft zu müde, um die 1000 km an einem Stück zu fahren und es gibt alle Varianten von Einteilungen: Spät in Bonn los, Etappenziel Verdun: 325 km. Früh in Bonn los, Etappenziel Auxerre: 650 km.
Zurück geht es immer etwas mühsamer. Manchmal fahre ich früh los und komme trotzdem nur bis Auxerre. Manchmal fahre ich nicht so früh los und komme trotzdem bis Verdun. Ich weiß es vorher nicht.
Heute ist einer von den Tagen, an denen ich in Auxerre aufwache und auf dem Rückweg bin. Der große Gelbe strahlt vom Himmel, mein Etappenhotel hat hervorragendes Frühstück und mein geliebter Ford Courir hat Lust zu fahren. Mein Auto ist mein Freund.
Wenn meine Lebensumstände mich nicht zu etwas anderem zwingen, möchte ich immer nur Kastenwagen fahren. Er ist knallrot, ein Zweisitzer mit LKW-Zulassung. Hintendrin sind  fast immer mein Fahrrad, mein Schlafsack und genug Klimbim, um in der Wüste zwei Wochen zu überleben. In den sieben Jahren, die ich ihn gefahren habe, hat er wenig Geld gekostet und mir oft als Schlafzimmer gedient. Mein Vorbesitzer hatte eine Judomatte auf die Ladefläche gebastelt und da ich nicht besonders groß bin, hatte ich mein Hotelzimmer immer dabei. Wenn er zusammenbrach, dann immer an sozialverträglichen Stellen, so dass es keine größeren Probleme gab. Zum Beispiel am Freitag Abend vor meiner Haustür. Genug Zeit, sich zu kümmern oder anders zu organisieren. Wenn ich mit den Jungs Fahrrad gefahren bin, nahm er vier bis fünf Fahrräder auf, die man nur festzurren musste. Nix Vorderrad ausbauen oder so.
Wir machen uns also im Burgund auf den Weg. Die Überlandfahrt ist ein Traum. Vom Burgund in die Champagne. Von der Champagne nach Lothringen. Von Lothringen in die Ardennen. Eine Etappe ist schöner als die andere. Es läuft. Es ist Sonntag, da fahren die Franzosen kurz zum Supermarkt und mittags zu den Eltern oder ins Restaurant, keine weiten Strecken. Überland bin ich alleine und singe die Songs im Radio mit.  Ich komme früh am Fuß der Ardennen an.
Meine Tankanzeige springt auf Reserve. Nach den vielen, langen Fahrten kenne ich meine Distanzen ganz gut. Ich fahre Diesel und habe noch etwas Luft. Also hier noch nicht rausfahren, oh, hier bin ich zu spät und umkehren ist doof. Ich träume noch ein bisschen vor mich hin, bis mir klar wird, dass es Zeit wird.
Eigentlich ist tanken ja nicht so schwer. Auch am Sonntag in Frankreich nicht. Jeder große Supermarkt hat eine Tanke, an der man mit Karte bezahlen kann und jeden Tag zu jeder Uhrzeit. Mit Karte und Geheimzahl. Mir wird ein bisschen wärmer, als mir wieder einfällt, dass das Konto mit der Geheimzahl leer ist und ich nur Bargeld und eine Kreditkarte bei mir habe. Und vom Burgund bis in die Ardennen ist Frankreich immer spärlicher besiedelt. Tankstellen gibt es übrigens schon seit einigen Kilometern nicht mehr. Also überwinde ich die Schwerkraft, die mich bisher davon abgehalten hat, an die Tanksäule zu fahren und fahre beim nächsten Einkaufszentrum raus. Kreditkarte nimmt die Tanksäule nicht und das Kassenhäuschen ist geschlossen, Bargeld werde ich also auch nicht los. Ich versuche einen der Tankenden davon zu überzeugen, mir gegen Bargeld seine Karte zur Verfügung zu stellen. Er sieht mich merkwürdig an und geht, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt wird es eng. Ich schaue auf die Landkarte.
Um zuverlässig eine Tankstelle zu finden, die meine Kreditkarte nimmt, muss ich es bis zur Grenze nach Luxemburg schaffen. Das ist nicht gerade zwei Dörfer weiter. Hier liegen zu bleiben wäre richtig doof, ich muss morgen arbeiten. Und eben fand ich es noch ganz toll, dass außer mir niemand unterwegs ist. Hmpf. Der Ort, den ich erreichen muss, heißt Longwy. In meinem Gehirn taucht die Ballade von John Maynard (Theodor Fontane) auf, noch aus der Schulzeit dort verankert

Wer ist John Maynard?

John Maynard war unser Steuermann,
Aus hielt er, bis er das Ufer gewann,

Als ich achtzehn war, hat mir mein Vater mir auf dem Gelände des Bundesverteidigungsministeriums Auto fahren beigebracht. Zum Glück hat er mir auch Radwechsel, bei Schnee, Eis und Nebel und spritsparendes Fahren beigebracht. Ich sage meinem Auto, dass es mich nach Longwy bringen MUSS. Also, dass es jetzt aufhören muss, Kraftstoff zu verbrauchen.

Und plaudernd an John Maynard heran
Tritt alles: »Wie weit noch, Steuermann?«
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund':
»Noch dreißig Minuten ... Halbe Stund«.

Könnte hinkommen. Ich fahre los und mache alles, was mein Vater mich gelehrt hat.

(Inzwischen ist an Bord ein Feuer ausgebrochen.)

Und ein Jammern wird laut: »Wo sind wir? wo?«
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.

Ich habe das Radio ausgemacht, atme etwas flacher, damit das Auto Sprit spart.

Und das Schiffsvolk jubelt: »Halt aus! Hallo!«
Und noch zehn Minuten bis Buffalo.

Der Motor soll sich nicht anstrengen müssen. Das ist gar nicht so einfach, wenn es so hügelig ist wir hier. Ich kenne die Anzeichen von ganz leer. Kurze Motoraussetzer, dann noch zwei Kilometer bis Buffalo ..., Quatsch, dann noch zwei Kilometer bis zum Stillstand. In Gedanken hänge ich mit dem Stetoskop an meinem Motor.

Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so .
Rettung: der Strand von Buffalo

Es ist das Ortschild von Longwy. Tief durchatmen. Jetzt kommt der Kommerzgürtel, der jede französische Stadt umgibt, mit Mac Donalds, Möbelhaus und Tankstelle. Mac Donalds: check. Möbelhaus: check. Tankstelle: nö. Das kann ich jetzt nicht glauben. Was allerdings klar ist: Diese Stadt verlasse ich nicht ohne Sprit.
Longwy hat zwei Stadtteile: Longwy haut (oben) und Longwy bas (unten). Ich bin oben, wo sie mir nicht helfen wollen und rolle jetzt nach unten. Ich nehme im Gefälle den Gang raus und höre die ersten Motoraussetzer. Das Auto bleibt genau vor dem Kirchturm mit absterbendem Motor stehen. Es hat den Auftrag: Bring mich nach Longwy auf den Punkt genau befolgt.
Im Café gegenüber gönne ich mir einen extrastarken Kaffee und eine Frage: Warum gibt es hier alles außer Tankstellen? Man lächelt mich mit der Nachsicht für geistig Zurückgebliebene an und informiert mich, dass niemand so blöd ist, einen Kilometer vor der luxemburgischen Grenze ein solches Etablissement zu eröffnen. Räusper...
Ich krame aus meinem Überlebensequipment den Fünf-Liter-Kanister hervor, stelle mich an die Straße Richtung Grenze und halte den Daumen raus. Trampen kann ich richtig gut. Zwei Minuten später hält einer junger Mann und informiert mich, dass er mein Anliegen schon verstanden habe. Am Handtäschchen erkannt. So ist das im JetSet. Er sei bereit, mich zu Tankstelle und wieder zurück zu begleiten, er habe nichts anderes vor. Und so geschieht es auch. Als er mich wieder an meinem Auto absetzt und ich mich überschwänglich bedanke, hat er nur eine Bitte: Ich soll der Welt erzählen, wir nett die Leute in Longwy sind.
Ich habe mein Versprechen gehalten.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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