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Wie letzte Woche schon erzählt, war 2014 ein schwieriges Jahr. Mitte Mai bin ich am Ende meiner Kraft. Seit zehn Wochen flitzen mein Bruder und ich durch die Bundesrepublik, um meinen Vater beim Sterben zu begleiten. Im Kollegium gibt es keine Vertrauensperson zu diesem Zeitpunkt, von der Schulleitung schweige ich heute. Fritz und ich arbeiten, schlafen, fahren durch die Gegend und schlagen uns mit dem Krankenhaus herum. Heiner ist häufig dabei und hilft uns, besonders im Umgang mit dem Krankenhaus. Meinem Vater wurde wegen seiner Diabetis in den letzten zehn Tagen zwei Mal ein Stück vom rechten Bein amputiert. Der Chirurg hat uns im Anschluss gesagt:

  • Der Mann kommt nicht mehr auf die Beine.

Ich habe meinen gesamten schwarzen Humor gebraucht, um ihm für diesen Satz in diesem Zusammenhang keine runterzuhauen. Vielleicht macht er mal ein Kommunikationsseminar bei mir. Irgendwann laufe ich über und fange im Unterricht an zu weinen. Ich befinde mich in der Kfz-O9, Oberstufe, ein halbes Jahr vor der Prüfung.

Mein Unterrichtsfach ist Wirtschaft/Politik, eines der Prüfungsfächer. Das ist normalerweise nicht tränentreibend sondern Fleißarbeit. Ich begleite diese Klasse seit der Unterstufe und musste sie sehr hart diziplinieren. Wir haben sie während der Baustelle eingeschult in einem der stinkenden Würfel, in die wir während der Fassagenrenovierung gezogen sind bei einer Raumtemperatur von 15°C im Winter. Ein großes Loch ist in der Tafel und eines in der Decke. Es sah aus wie nach dem Krieg, nach welchem auch immer. Die Klasse war sehr groß und seltsamerweise benehmen sich Schüler, die man im Sperrmüll empfängt, nicht wie junge Lords. Es hat gedauert mit dieser Klasse, aber jetzt geht es gut. Als sie mich weinen sehen, sind sie fassungslos. Der Drillseargent weint, wie kann das passieren? Einer schubst den anderen und der Klassensprecher muss dran glauben:

  • Was ist denn los, Frau Wichmann?
  • Mein Vater liegt im Sterben.

Sie fragen nach. Meistens möchten Klassen, die uns zum Erzählen bringen möchten, Unterricht vermeiden. Manchmal möchten sie aber auch nur etwas über das richtige Leben erfahren, das wir in der Schule so gerne aussperren. Ich sehe an ihren vollkommen entgleisten Gesichtszügen, dass wir Lage Nummer zwei haben. Also entschuldige ich mich auf die Toilette, um mir das Gesicht zu waschen und die Nase zu putzen.

  • Was möchtet ihr wissen?

Alles, einfach alles. Wie es ist, wie es sich anfühlt, wie man damit klarkommt, ob ein plötzlicher Tod besser ist oder ein langsamer, die Probleme mit den Ärzten, die Situation in der Familie, was ist Diabetis... Alles, einfach alles.

  • Machen wir jetzt Wirtschaft oder Tod und Sterben?
  • Tod und Sterben, antworten sie im Chor.

Ich erzähle. Alles. Es ist totenstill. Sie fragen nach, ich erzähle weiter. Erzähle, dass ich beim Tod meiner Mutter im Jahr das Gefühl hatte, dass ein genetisches Programm anspringt, dass einem hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen und mit dem Tod der Eltern fertig zu werden. Und alles andere.

Sie melden sich. Sie erzählen. Mir wird klar, dass sie gerade ihre Großeltern verlieren. Es gongt, sie wollen nicht gehen.

  • Frau Wichmann, können wir nächste Woche wieder Tod und Sterben machen?
  • Ja, das können wir.
  • Das ist ja toll.

Ich hätte vielleicht eine andere Formulierung gewählt, aber ich habe verstanden. Mein Job ist es, sie fit für die Prüfung zu machen und da ich den Wirtschaftsunterricht alleine gemacht habe, weiß ich, dass wir Spielräume haben. Der Unterricht in Tod und Sterben dauert sechs Wochen. Ihr Informationsbedürfnis ist gigantisch. Ihr Redebedürfnis ist noch größer. Alle Masken fallen, alle sind seelisch nackt. Alle erzählen alles. Vom Hund bis zur Oma. Und nichts geht schief. Alle sind sicher. Alle sind vorsichtig.

Ich habe dieser Klasse in der Mittelstufe mal gesagt, sie mögen bitte alle aufstehen, weil ich ein Abfragespiel vorhatte. Als sie standen, habe ich sie sofort aufgefordert, sich wieder zu setzen, damit sie nicht realisieren, wie klein ich bin. Sie sind groß, vierschrötig, manchmal ungehobelt. Nicht alle waren bei der Farb- und Stilberatung. In diesen sechs Wochen sind sie zart, verletzlich und unglaublich vorsichtig. Jede Unterrichtseinheit beginnt mit dem Satz:

  • Frau Wichmann, dürfen wir Sie fragen, wie es Ihnen und Ihrem Vater geht?

Ich weiß, dass sie warten, genau wie mein Bruder und ich. Wir warten, dass er stirbt. Und er stirbt. Ich erfahre es per SMS am Morgen vor dem Unterricht. Ich bin müde und traurig. Erleichtert auch. Ich gehe nach unten zur stellvertretenden Schulleitung und möchte darum bitten, dass ich nach Hause darf. Heulen und schlafen.

  • Veronika, mein...

Sie sieht mich an und unterbricht mich, wie sie das gerne tut. Immer und bei jeder Gelegenheit.

  • Kannst du in der dritten und vierten in der Kfz-M9 Vertretung machen?
  • Ja, ok.

Ich trolle mich und gehe unterrichten. Zum Glück hat man in meinem Alter einen Autopiloten für Unterricht. Am nächsten Tag ist die Oberstufe im Haus. Ich treffe sie auf dem Schulhof und ein Blick in mein Gesicht genügt ihnen. Sie sind erschrocken, fassen mich am Arm.

  • Was ist passiert?
  • Es ist passiert.

Ihr Mitgefühl tut mir gut. Wir haben schon vor Wochen aufgehört, Lehrerin und Schüler zu sein. Am Vortag der Beerdigung wissen sie alle Bescheid und wünschen mir für das, was kommt, sprachlich und menschlich angemessen alles Gute

Die Prüfung in Wirtschaft haben alle bestanden.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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