5 min read

Disclaimer: Zur Veranschaulichung mancher Gedanken habe ich eine Schule erfunden. Sie heißt Die Schule auf dem Mars. Sie ist, wie gesagt, reine Fiktion und nichts, was hier beschrieben wird, ist jemals auf der Erde passiert. Das ist auch gut so, denn die beschriebenen Ereignisse würden ein sinnvolles Schulleben ad absurdum führen. Alle handelnden Personen sind ebenso erfunden und Ähnlichkeiten mit real existierenden Persönlichkeiten sind reiner Zufall und nicht beabsichtigt.

In den letzte Jahren habe ich mich viel mit dem Thema Aufräumen und Besitz reduzieren beschäftigt und bin dabei zwangsläufig mit der Minimalismus-Bewegung aus den USA in Kontakt gekommen.

Während ich aufgeräumt und aussortiert habe, habe ich YouTube-Videos gehört, die mich unterstützt und angeregt haben. In einem dieser Videos gab es folgende Überlegung:

Wenn wir Dinge kaufen, nicht verwenden oder schnell wieder wegwerfen, zeigen wir einen Mangel an Respekt für die Menschen, die ihre Lebenszeit dafür eingesetzt haben um sie herzustellen. Diese ist mit dem Geld, das wir für die Gegenstände bezahlt haben, nicht hinreichend wertgeschätzt, sondern erst die sinnvolle und regelmäßige Verwendung dieser Gegenstände erzeugt einen Gegenwert für diese Lebenszeit. Nimm dies mitten ins Gesicht.

Dieser Gedanke hat mich seither von vielen Käufen abgehalten und irgendwann habe ich mir gedacht: Das will ich auch, so soll man auch mit mir umgehen. Seit vielen Jahren tausche ich meine Lebenszeit gegen Geld. Lehrerin ist einer der Ur-Berufe wie Schuster, Feuerwehrmann oder Arzt. Man fragt sich nicht ständig, warum man das eigentlich macht, denn man weiß es. Junge Menschen schlau und stark zu machen, ist einfach eine gute Idee. Es ist gut gelebte Zeit, es sei denn, der Arbeitgeber entscheidet etwas anderes.

Photo by Moritz Kindler / Unsplash

Zum Beispiel bei Teamsitzungen:

Die Schule auf dem Mars gibt es in der Abteilung für Interstellarfahrzeuge, der größten Abteilung der Schule, Probleme mit den Laptop-Klassen. Sie sind ein Prestigeobjekt der Schule und sie funktionieren nicht. In jeder Teamsitzung sind sie Thema, jeder darf ein bisschen jammern und das war es dann. Deckel auf, Problem umrühren und Deckel wieder zu. Im Schulsystem auf dem Mars wird Reden und Handeln häufig für das Gleiche gehalten. Zum Glück ist das auf der Erde nicht so. Ich unterrichte in den Laptopklassen nicht, frage aber doch irgendwann, wie das ursprüngliche Konzept für diese Klassen mal ausgesehen hat. Denn: Ich bin viele Stunden zwangsläufig Zeugin dieses Gejammers gewesen. In Sekunden fühle ich mich wie eine widerliche Kreatur aus dem Weltraum, mir als Erdling steht so eine Frage offensichtlich nicht zu.

Oder bei der Stundenplanung:

Zu der Zeit bin ich noch Teamsprecherin und bei der abenteuerlichen Stundenplanung dabei. Es ist meine letzte, denn ich plane meine Rückkehr auf die Erde. Wir sind elf. Eugenia, die stellvertretende Schulleiterin, kommt eine ganze Stunde zu spät. Als sie dann eintrifft, gibt es keine Erklärung und keine Entschuldigung. Originellerweise ist sie Diplomatentochter. Bei ihr hat diese Herkunft dazu geführt, dass sie innerlich und äußerlich vollständig mit Teflon beschichtet ist. Ich bin Handwerkerin und rechne die elf unproduktiven Stunden in 1,3 Arbeitstage und reparierte Fahrräder um. Denn etwas anderes gibt es nicht zu tun.

Photo by Maxim Selyuk / Unsplash

Oder an einem pädagogischen Tag:

Die Regierung unserer Galaxie beaufsichtigt die Schulen auf dem Mars und schickt gelegentlich eine Qualitätskontrolle vorbei.  Unsere ist ziemlich gut, sie sieht, was wir können und was nicht. Das steht in dem Bericht, den wir nach langer Wartezeit dann irgendwann einmal im Sekretariat ausleihen dürfen. In Folge des angemerkten Verbesserungspotentials wird ein Pädagogischer Tag anberaumt. Es herrscht eine Stimmung von Hoffnung, der Blick von außen hat uns gut getan. Zu diesem Zeitpunkt ist die Schule in einer ähnlichen Lage wie die USA jetzt, im Frühling 2020. Sie ist einem Narzissten mit Allmachtsphantasien und ohne Führungskompetenz ausgeliefert. Aber vielleicht wird jetzt alles anders. Vielleicht gibt es einen Weg heraus aus dem Elend. 50 KuK verbringen je sechs Zeitstunden mit dem Sammeln und Diskutieren von Ideen. Und die Ideen sind phantastisch.  So viele von ihnen haben sich im Vorfeld Gedanken gemacht, wie die Schule besser funktionieren kann. Die Ideen werden zusammengetragen, der Schulleitung übermittelt und verschwinden in einem Wurmloch. Sie werden weder veröffentlicht noch hat man auch nur eine von ihnen aufgenommen. Ich bin Handwerkerin und rechne: 50 x 6 = 300 Arbeitsstunden. Geteilt durch 40 sind es 7,5 Arbeitswochen. Viiiiele Fahrräder.

Oder bei einer Fortbildung:

Diese Episode ist mein Liebling, ich weiß noch, wie viel Mühe ich mir gemacht habe um sie mir auszudenken. Und an die Fahrradmonteure, die meinen Blog lesen: Sie ist natürlich nie passiert. Für die Nicht-Mechaniker: In der Werkstatt wird unsere Arbeitsleistung in AW (Arbeitswerten) gemessen. Ein AW hat sechs Minuten und für jeden Auftrag steht eine bestimmte Menge an AW zur Verfügung. Wer dauerhaft unter seiner AW-Vorgabe bleibt, hat ein Problem. Jeder weiß am Ende des Monats, wie jeder eingenommene Euro verdient wurde.

Die Regierung der Galaxie sorgt ständig für die Verbesserung des Schulsystems auf dem Mars. Das tut sie unter anderem durch Fortbildungen. Diese heißt Preventing School-Drop-Outs und ist ein richtig dickes Ding. Vorzeitige Schulabbrüche verhindern. Intensiv und vor allem international. Vier Nationen gehen in den Erfahrungsaustausch. Und sie verreisen. Fünf unserer KuK sind je eine Wochen bei den anderen zu Besuch. Fünf KuK sind zu diesem Zeitunkt 10% des Kollegiums. Die anderen machen die Vertretung. Rechne ich in Unterrichtsstunden, fallen 382 Vertretungsstunden an. Rechne ich in Arbeitsstunden sind es 600h. Aber es lohnt sich bestimmt. Und es ist bestimmt Thema der nächsten Lehrerkonferenz. Ist es nicht. Alle wieder da, alle gut gelaunt und nicht auf der Tagesordnung. Bei dem Tagesordnupunkt Verschiedenes frage ich dann mal nach, was die Truppe uns denn Schönes an Erkenntnissen mitgebracht hat. Und wie diese in die Schule integriert werden sollen. Ok, den Blick kenne ich schon aus den Teamsitzungen der Interstellarfahrzeuge. Schnauze, Erdling, was willst du eigentlich? Der Mars ist an vielen Stellen ganz ähnlich organisiert wie Deutschland, in Bundesländern. Meines heißt Absurdistan. Also Kollege Lark sei nicht da und der habe die Auswertung. In der nächsten Lehrerkonferenz. Für alle Nicht-Lehrer: Die finden so in etwa zweimal im Jahr statt. Wenn mich etwas wirklich ärgert, kann ich die Eigenschaften einer Filzlaus entwickeln und bin nicht loszuwerden. In der nächsten LK frage ich wieder. Lark ist da, hat aber die Auswertung vergessen. In der danach lautet die Antwort: Die beteiligten Kollegen aus vier Nationen haben einen Reader erstellt. Auf Englisch. Er liegt im Lehrerarbeitsraum und kann dort eingesehen werden. Ich danke herzlich für dieses Geräusch.

Epilog:

Im Jahr 2014 ist mein Vater gestorben. Es war ein Sterben über vier Monate und mein Bruder und ich haben ihn angemessen begleitet. Irgendwann mittendrin ruft Klara mich an und fragt, wie es mir geht. Ich habe über die Antwort nicht nachgedacht, sie war einfach da: Wir sind im Auge des Sturms und halten zusammen. Es ist keine Party. Aber: Es ist eine RICHTIGE Aufgabe. Nicht irgendein Schwachsinn, den mein Arbeitgeber sich ausgedacht hat um meine Lebenszeit zu verplempern.

Nicht lange danach wird bei Klara Brustkrebs diagnostiziert. Ich frage, wie es ihr geht. Und sie gibt mir meine Antwort zurück: Es ist eine richtige Aufgabe. Nicht irgendein Schwachsinn...

Wenn der Tod unserer Väter und die Bekämpfung von Krebs uns lieber ist, als mit steigender Geschwindigkeit um ein Nichts zu kreisen, dann ergeht hier und jetzt eine dringende Bitte an alle Arbeitgeber.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

Read more posts by this author.

Bonn