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Die schreckliche Angst davor Zeit zu haben

Photo by Aida L / Unsplash

Ich habe in MonVillage vor ein paar Jahren mal festgesessen. Die ersten drei Tage ohne Auto waren angekündigt. Jean Michel und ich haben uns damals sein Auto geteilt und wir waren gleichzeitig da. Er brauchte es beruflich und ich war in Ferien. Also habe ich zurückgesteckt. Dass er die drei Tage ohne Absprache auf eine Woche ausdehnt und mir damit die Ferien versaut, wusste ich voher nicht. Seitdem steht mein Auto in Frankreich.

Das Gefühl nicht jederzeit weg zu können war sehr ungewohnt. Und dann wurde mir klar, dass die Leute in MonVillage bis vor hundert Jahren und in jedem ländlichen Gebiet eigentlich immer zu Hause geblieben sind. Ihr ganzes Leben lang. Der Mann ging aufs Feld und die Frau kümmerte sich um Haus, Hof und Kinder. Und einmal im Monat ging es mit dem Ochsenkarren zum Markt nach Oradour. Yeah. Paaartyyy.

Nach Oradour fahre ich täglich, wenn ich in MonVillage bin, denn dort steht mein Supermarkt. Und wenn ich etwas vergessen habe, fahre ich noch einmal. Ich verschmutze die Umwelt, weil ich mich vorher nicht hinreichend konzentriert haben. Mit dem Auto dauert es zehn Minuten. Ich weiß nicht, wie schnell man sich bewegt, wenn man ein Ochse ist und etwas Schweres zieht. Etwas langsamer als ein Mensch, der zu Fuß geht, denke ich. Ein Mensch bewegt sich mit vier km/h. Ist man langsamer, braucht man für die sechs Kilometer zwei Stunden.

Bagan, Myanmar
Photo by Dinis Bazgutdinov / Unsplash

Als ich verstanden hatte, dass mein Ausnahmezustand für unsere Vorfahren Normalität war, habe ich es zum sozialen Experiment erklärt. Das hatte auch den Vorteil, dass ich mich nicht mehr wie der Trottel gefühlt habe, den Jean Michel übervorteilt hat, sondern wie eine Wissenschaftlerin. Anthropologin, z.B. Wer bin ich, wie ist mein Leben, wenn ich zu Hause bleiben muss? Das Experiment war mit einigen interessanten Feststellungen verbunden.

Wenn man nicht ständig von A nach B fährt, hat man sehr viel Zeit. Die Menge an Lebenszeit, die mich meine vermeintliche Freiheit täglich kostet, hatte ich massiv unterschätzt. Als alle Jobs für den Tag erledigt waren, hatte ich noch immer drei Stunden übrig.

Was ist so schlimm daran, zu Hause zu sein und Zeit zu haben? In MonVillage gibt es weder einen Fernseher noch Internet. Es gibt ein Radio und ein Feuer. Ich denke schon länger, dass der Fernseher verzweifelter Ersatz für das Feuer ist, um das wir uns abends gerne herumsetzen würden um miteinander zu reden und zu schweigen. Ein Raum mit einem Feuer hat sofort ein Zentrum. Wenn ich länger in MonVillage war, stehe ich bei meiner Rückkehr zu Hause herum wie eine kaputte Standuhr und weiß nicht, wie ich mich ausrichten soll. Perdre le nord, den Norden verlieren heißt das auf Französisch. Aber ich schweife ab.

Wenn jetzt am Wochenende die Ausgangssperre kommt, wird die ganze Republik kollektiv in Therapie geschickt. Ein therapeutisches Zauberwort der letzten zehn Jahre hieß entschleunigen.

This sign was hard to ignore on the mountain road as the bright orange color screamed against the cool blues of the scene.
Photo by Nareeta Martin / Unsplash

Man kann, wenn man Zeit hat, eine Beziehung zu dem Raum aufnehmen, in dem man lebt, statt ihn wie sonst zur Kulisse von hektischem Treiben zu machen. Soll er so bleiben? Wenn nicht, wie soll er werden? Das kann man am besten "erfühlen" und fühlen geht gut, wenn man Zeit hat. Muss etwas repariert oder ersetzt werden? Fehlt etwas? Muss etwas gesäubert werden? Man kann sich ja mal umschauen.

Man kann auch etwas ganz Gefährliches machen: mal nach innen schauen. Wie geht es mir? Bin ich da, wo ich hinwollte? Oder denke ich öfter How did I get here? Was ist aus meinen Wünschen und Träumen geworden? Wie erkläre ich der 19jährigen, die ich mal war, was ich aus ihrem Leben gemacht habe?

Oder man sich die ansehen, die um einen herum leben: Gibt es jemanden, dem ich weh getan habe, bei dem ich mich noch entschuldigen müsste? Sich zu entschuldigen ist leider völlig aus der Mode gekommen. In Mode gekommen ist es, sofort zurückzuschlagen und niemals einen Fehler zuzugeben. Was für eine Hybris.

Gibt es jemanden, bei dem ich mich längst hätte melden wollen? (Steffi aus Lille, der Satz ist für dich.)

Man kann auch etwas ganz Ungefährliches machen. Heinz hat heute mehrere Liter Hühnersuppe gekocht und eingefroren. Super Sache.

Unsere Vorfahren waren viel zu Hause, angstfrei und ohne Lagerkoller. Man könnte mal darüber nachdenken, woher diese schreckliche Angst kommt. Nachdenken ist sowieso eine gute Idee. So lange nachdenken, bis sich eine neue Erkenntnis gebildet hat. Sehr sexy.

Die Vorfahren unserer Vorfahren, waren gut beschäftigt damit, Essen zu jagen, anzubauen oder in einen Krieg zu ziehen. Die waren ganz froh, wenn sie lebend wieder zu Hause waren.

Photo by Lana Graves / Unsplash

Es gibt Sätze, die so abgelutscht sind, dass sie schon fast atomar verseucht sind. Vielleicht liegt in dieser Situation für uns alle eine große Chance, gehört dazu. Der kann zu meinen Lebzeiten nicht mehr benutzt werden. Schade.

Wenn der Lärm, die Ablenkung und die permanente Zerstreuung mal aufhören, ist da keine Leere. Da ist Stille, Hinlenkung und Konzentration. Und du. Wie schön.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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