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Winter 2010

Das Heft war ganz schön teuer, aber es macht was her; es ist die Leonardo da Vinci-Spezialausgabe des Figaro: dick und hochglänzend mit sehr schöne Abbildungen. Ich bin schon lange ein Fan von ihm und finde, so langsam könnte ich mal außer wie schön und wie klug ausgedacht und wow etwas Kompetenteres denken.

Es geht nichts über eine gut sortierte Kölner Bahnhofsbuchhandlung. Der Thalys ist pünktlich, meine Laune strahlend gut. Ich freue mich einfach auf die Reise, dass der Platz neben mir frei ist, auf Paris und auf das Häuschen.

Nach der üblichen halben Stunde, die man so herum träumt, die anderen Fahrgäste und die Landschaft wahrnimmt, mache ich mich an das Vergnügen, gut geschriebene französische Texte zu lesen und mir die schönen Bilder erklären zu lassen. Der Chauffeur wird den Weg schon wissen. Ein paar Minuten vor Brüssel ist dann der Morgenkaffee durch und ich bringe ihn weg. Zurückkommend sehe ich, dass der Fensterplatz nicht mehr frei ist und meine Reiselektüre auch nicht. Sie liegt auf dem Schoß einer Dame, die interessiert darin blättert.

Ich zucke zusammen, was sie nicht sehen kann, da ich mich von hinten anschleiche. Während der drei Schritte, die mir noch bleiben, fragt ich mich, wie man so etwas mental organisiert kriegt.

Das Heft lag ordentlich in dem Netz vor meinem Sitz und dieser ist offensichtlich vergeben. Er ist gut sichtbar durch meine Jacke gekennzeichnet. Die Nummer Das hat jemand hier liegen lassen, wie nett, das ist jetzt meins scheidet also aus. Es war aufgeschlagen, es handelte sich also offensichtlich um die Lektüre eines anderen Reisenden. Wird sie jetzt auch zucken und mir das Heft mit einer charmanten Entschuldigung zurückgeben? Das ist eigentlich das, was ich erwarte.

Ich lächle sie an und setze mich. Sie lächelt zurück, mein Heft ruht auf ihrem Schoß. Dann setzt sie ihre Brille auf und beginnt zu lesen. Ich bin sprachlos.

Ja ja, ich weiß, es gibt immer jemanden, der etwas tut und jemanden, der sich nicht wehrt. Seit einiger Zeit ist der schuld, der sich nicht schnell genug gewehrt hat. So der allgemeine Stand der allgemeinen Küchenpsychologie und der Ratgeberartikel in Frauenzeitschriften. Ich nicht zu schüchtern um mich zu wehren. Aber ich bin ungeheuer neugierig. Diese Neugier, die dazu führt, Menschen einfach gewähren zu lassen, um zu sehen, wann sie sich selbst stoppen, hat mich in die Küchen unterschiedlichster Teufel gebracht.

Und ich finde immer noch, dass es falsch ist, jemandem achtzig Prozent der Verantwortung aufzubürden, weil er sich nicht sofort gegen schlechtes Benehmen wehrt. Ich finde immer noch, dass die achtzig Prozent dem gehören, der sich schlecht benimmt. Ich finde immer noch, dass irgendwann der Anstandswecker klingeln könnte. Aber die Welt hat sich geändert. Wenn jemand feige ist, nennt er das ja auch neuerdings gelassen.

Den mutwillige Blick in den Augen der Handelnden, der signalisiert Stopp mich doch kenne ich aus den Augen zehnjähriger Kinder und meiner Schüler. Bei Leuten, die ich ernst nehmen möchte, setze ich zumindest EINE Erziehung als beendet voraus. Und zu der gehörte mal, dass man nicht nimmt, was einem nicht gehört. Old fashioned?

Sie liest ziemlich genau bis zu der Seite, bis zu der ich auch gekommen bin, blättert noch ein paar Abbildungen durch und entscheidet dann wohl, dass eine Konversation jetzt auch ganz unterhaltsam wäre. Dass ich ihre Sprache kann, kann sie ja wohl erwarten, jetzt, wo sie meine Lektüre wohlwollend zur Kenntnis genommen hat. Sie fragt also, ob meine Reise mich nach Paris führen würde. Ich antworte, dass ich meinen Weg bis Limoges fortzusetzen gedenke.

Das führt bei Franzosen immer zu dem gleichen Effekt. Sie sind fassungslos. Schon bei jemandem aus ihrem Land können sie sich einen Besuch des Limousin ausschließlich dadurch erklären, dass die Eltern dort wohnen. Bei einer Ausländerin gar nicht. Sie fragt nach. Ich antworte,obwobl ich weiß, dass ich es auch lassen könnte. Dass es genau das Vergessene, das Unspektakuläre, das Unaufgeregte dieses Landstriches ist, was mich reizt.

Wenn sie parisienne ist, ist jede Konversation, egal, wie nett sie anfängt, ein Wettkampf. Es muss immer einen Gewinner und einen Verlierer geben. Wir haben gerade angefangen, die Karten auf den Tisch zu legen

Also sie und ihr Mann haben natürlich auch eine maison de campagne. Im Périgord. Das ist südwestlich vom Limousin und touristisch viel attraktiver, schon alleine wegen der Trüffel. Ich strahle sie an und finde, dann wären wir ja quasi Nachbarinnen. Das findet sie offensichtlich nicht, wie mir ihre hochgezogenen Augenbrauen signalisieren.

Dass ich ihr Trumpfass, die bessere Lage, so lässig ignoriere, nimmt sie ungnädig zur Kenntnis. Also vergleichen wir mal Wohnflächen und Grundstücksgrößen. Bei beidem gewinnt sie, obwohl mein Grundstück mit achthundert Quadratmetern gar nicht so klein ist. Die Wohnfläche ist mit dreißig Quadratmetern trotz Kamin natürlich lächerlich. Bei ihrer nächsten Bemerkung weiß ich nicht, ob sie sich einen Moment gehen lässt oder ob es der nächste Trumpf ist, den sie ausspielt. So ein großes Haus und Grundstück wie ihres bräuchte man im Sommer auch wegen der vielen Touristen, um sich zurückzuziehen. Das liegt natürlich daran, dass das Périgord viel attraktiver ist. Ich bezeuge Mitgefühl und sage ihr, dass ich mir das anstrengend vorstelle und dass mir das mit den vielen Touristen wirklich leid tut.

Ich sehe vor meinem inneren Auge meinen ersten Sommer im Limousin im letzten Jahr. Wir haben draußen in meinem Garten gelebt, völlig unbehelligt, denn im Winter wohnen dort siebenundvierzig Menschen pro Quadratkilometer, im Sommer achtundvierzig, weil die Tochter zu Besuch kommt, neunundvierzig, wenn deren Mann noch nachkommt und nächstes Jahr 50, weil sie schwanger ist. Damit kann ich leben.

Auf Beileidsbezeugungen war sie nicht gefasst, mein Mitgefühl findet sie doof, ich soll sie jetzt endlich als die Überlegene anerkennen. Also holt sie, weiterhin lächelnd, zum finalen Schlag aus. Der beginnt häufig mit einem Kompliment.Mein Französisch sei ja wirklich gut und cultivée sei ich ja auch offensichtlich. Ob ich denn wüsste, dass Limoges die kleinste Departementshauptstadt in Frankreich sei? Und der Ortsname es als Verb bis in Lexikon geschafft hat? Jemanden limogen bedeute, seine Karriere zu beenden, ihn kalt zu stellen. Deutlicher kann man nicht signalisieren, dass mein Landstrich völlig zu recht von der Welt ignoriert wird.

Information eins ist mir bekannt, Information zwei ist mir neu und bedanke mich bei ihr für diesen Wissenszuwachs. Gegen meine fortgesetzt gute Laune ist sie machtlos und gibt auf.

Ich hingegen habe gerade Gefallen an diesem Spiel gefunden und frage sie, ob sie in Brüssel oder in  Paris wohnt. Zack, gehen die Augenbrauen bis zum Haaransatz nach oben und sie muss zugeben, dass sie in Brüssel geboren ist. Aber sie sei schon eeeeewig in Paris verheiratet und durch und durch parisienne. Jetzt kommt mir meine culture zugute und ich erinnere mich an den Satz eine Marquise von HabeIchVergessen, aber achtzehntes Jahrhundert:

Man kann ein Mädchen aus seiner province herausholen, aber niemals die province aus dem Mädchen. Und Belgien ist für die Franzosen schon eine sehr schlimme Provinz. Das sage ich ihr nicht wörtlich sondern nur mimisch. Jetzt lasse ich mal die Augenbrauen sprechen.

Mit DER hätte ich mich gar nicht abgeben müssen. Schließlich war ich schon mit neunzehn gelernte Parisienne.

Sie nimmt mein Hochglanzheft von ihrem Schoß, reicht es mir und sagt ganz beiläufig:

- Ich habe wohl Ihre Zeitung genommen.

- Hat Sie Ihnen gefallen? Ich hatte gerade gelernt, dass Leonardos Technik, niemals Linien sondern nur Schattierungen einzusetzen, als sfumato bezeichnet wird.

- Ja, das fand ich auch sehr interessant.

Wir sind an der Gare du Nord angekommen.

man walking crossing street in front of building
Photo by Paul Fleury / Unsplash

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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