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En face - Gegenüber

Herbst 2009 und weiter

Ich habe natürlich erst einmal keine Ahnung, denn es ist meine erste Immobilie im Ausland. Ich weiß, dass ich Wasser und Strom brauchen werde und Steuern zahlen muss. Versichern muss ich die Hütte auch. Meine beiden Vorbesitzerinnen haben mir Adressen und alte Rechnungen hinterlassen, ich muss zu meiner mairie in Mieux.  In großen Städten wie Paris heißt so etwas hôtel de ville und vermietet keine Zimmer, obwohl es hôtel heißt.  Rathaus passt für beides nicht. Für Paris ist das Wort zu klein, für Mieux zu groß. Das hôtel de ville in Paris ist zu schön, um es Stadtverwaltung, die mairie in Mieux zu verschnarcht, um sie Bürgeramt zu nennen. Monsieur le Maire würde den Begriff Gemeindevorsteher auch mit empörter Geste von sich weisen. Entschuldigt bitte, ich kann mich an so etwas endlos aufhalten. Ich mag es einfach, wenn Wort und Inhalt zusammenpassen.

Nachdem ich mich für Bürgermeisterei entschieden habe, kann ich auch endlich hingehen. Alle wissen, dass ich da bin und alle wissen, wo ich wohne. Ich wohne en face de Jean-Paul. Das wusste ich nicht. Ich dachte, ich wohne 26, Mon Village. Natürlich habe ich meinen Nachbarn gegenüber schon bemerkt. Das geht auch gar nicht anders. Er steht mit Sonnenaufgang in seinem Türrahmen und glotzt. Schöner isses nicht und dezenter leider auch nicht. Da er direkt geradeaus glotzt, glotzt er auf mich und mein Häuschen. Hmpf. Das mag ich eigentlich nicht so. Halb bewusst parke ich meinen Kastenwagen in einem Winkel, der möglich viel Sichtsperre bieten soll. Sichtsperre ist gar nicht so einfach, Jean-Paul wohnt am Hang oberhalb von mir und steht auf den Treppenstufen die zu seinem Einfang führen und ist so taktisch im Vorteil.

Sein Hund ist ein riesengroßer Flohzirkus namens Caline (Schmusi), der alles und jeden anbellt. Ich kenne das Vieh seit dem Urlaub bei Jean-Michel. Seit meine Freundin Andrea von einem Hund ins Gesicht gebissen wurde und ihre Züge nur behalten durfte, weil sie großes Glück mit dem Chirurgen hatte, habe ich ein bisschen Angst vor Hunden. Caline steht natürlich unangeleint auf der Dorfstraße herum, das ist hier so üblich. Aber ich wusste ja schon, dass ich hier nicht die Prinzessin würde geben dürfen. Jean-Paul lacht, wenn ich seinem Hund ausweiche und ruft mir irgendetwas zu. Er hat kaum Zähne, oft etwas zu essen im Mund, ab mittags gerne etwas getrunken und spricht das örtliche patois, die Regionalsprache. Also habe ich überhaupt keine Chance, ihn zu verstehen.

Alle in der mairie wollen wissen, wie es ihm geht. Er ist der Cousin vom Bruder des besten Freundes meiner Mutter, vous savez. Ja, jetzt weiß ich es. Für Wasser bitte hier unterschreiben. Bonjour, nett Sie kennen zu lernen, Sie sind also die Deutsche en face de Jean-Paul. Ich kenne Jean-Paul auch.  Seine Mutter war die beste Freundin der Patentante eines meiner Onkel mütterlicherseits, vous savez. Wie geht es ihm denn? Für Strom hier. Er lebt ja sehr einfach. Die Familie immer schon. Keiner weiß, comment il fait, wie er es macht. Für die Steuern sind wir nicht zuständig. Das ist in Bantiat. Ich erinnere mich, seine Mutter hat die Wäsche unten am Brudoux gewaschen und dann immer nach oben geschleppt, von unten von den Steinen. Für alle vier, zwei Söhne, sich selbst und den Mann, diiiee hat gearbeitet. Möchten Sie auch Telefon? Der Mann soll sie ja geschlagen haben,  aber Jean-Paul ist ein anständiger, ein fleißiger Mann. Aber keiner weiß, comment il fait. Ja, wie geht es ihm denn? Besser?

Ich bin überfordert. Ich habe zwei Unterschriften geleistet, also zwei Verträge abgeschlossen, weiß aber nicht mit wem.  Kopien habe ich nicht bekommen. Die Orte, von denen gesprochen wurde, kenne ich nicht. Und: Ich weiß wirklich überhaupt gar nicht, wie es Jean-Paul geht. Schon gar nicht im Vergleich zu früher. Also blubbere ich eine mit positiven Begriffen durchsetzte  kleine Wortwolke in die Gegend und verziehe mich.

Draußen muss ich erst einmal Luft holen. Ich denke mir: wenn sie Geld von mir wollen, werden meine Vertragspartner  ihre Identität schon preisgeben. Und ein im deutschen Radio totgespieltes Lied, meldet sich zurück: Lebt denn der alte Holzmichel noch, Holzmichel noch, Holzmichel noch? Ja, er lebt noch, er lebt noch. Ja, er lebt noch und es geht ihm gut.  Klingt ja ganz ähnlich.

Dreißig Kilometer weiter in Bantiat bei der Steuereintreiberei gibt es dann das Kontrastprogramm. Eine kleine, zierliche, ältere Dame sitzt still bei gedämpftem Licht in einem kleinen Büro. Sie kennt Jean-Paul nicht und wohl auch niemanden, der mit ihm verwandt ist. Das hat etwas Erholsames. Ich erkläre, dass ich gerne meine Steuern bezahlen möchte. Sie lächelt mich an. Es sei ganz reizend, sagt sie leise und mit kultivierter Stimme, dass ich persönlich vorbeigekommen sei. Ich möge mir keine Sorgen machen, was die Steuern angehe, käme man auf mich zu. Name und Adresse habe man ihr schon übermittelt. Wir wünschen uns gegenseitig einen angenehmen Tag. Ich bin froh, dass ich nicht im Blaumann gekommen bin.

Wieder zu Hause mache ich mir über meinen prominenten Nachbarn Gedanken. Er war von Anfang an sehr freundlich. Leider verstehe ich so ungefähr jedes achte Wort, von dem, was er sagt, also im Endeffekt nichts. Er wohnt auf der anderen Dorfstraßenseite in einer Art Reihenhaus Baujahr irgendwann im 18. Jahrhundert. Zu seinem Haus gehört kein Grundstück. Das Dach sieht durchlässig aus. Es gibt ein Zimmer im Erdgeschoss und eines darüber. Das Minifenster in der Etage ist kaputt. Es sieht nicht aus, als bewohne er diesen Teil seines Hauses. Ich kann auch glotzen, aber leiser. Ich werfe natürlich Blicke in seinen Wohnraum, wenn ich vorbeifahre, besonders, wenn er nicht da ist und die Tür offen ist. Gleichzeitig versuche ich den alterstarrsinnigen Hund nicht umzufahren. Ich glaube, Jean-Paul hat auch kein Bad. Mir dämmert, dass die Frage, wie er das wohl MACHT, durchaus wörtlich gemeint sein könnte.

Hildegard Wichmann

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