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Was die Pressekonferenzen des Gouverneurs von New York mit meiner Schule zu tun haben

Ich war, was politisches, vorsichtiges und diplomatisches Verhalten angeht, immer eine Null. Jetzt haben wir alle ein bisschen Extrazeit und ich nehme Nachhilfe bei Andrew Cuomo, dem Gouverneur von New York. Und wisst ihr was: Donald Trump hat den gleichen Nachhilfelehrer wie ich. Cool.

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Zur Erklärung:

An meiner Schule wird in einem besonders anspruchsvollen Bildungsgang mit einem Konzept unterrichtet, das ich unglaublich gut finde: der Tageslernsituation. Die SuS bekommen eine geschlossene Situation, die sie über einen ganzen Vormittag bearbeiten und die ihre Wurzeln immer in der Realität hat. Eine von ihnen heißt Lohnabrechung. Sie stellt die SuS vor die Aufgabe bei einem angenommenen Brutto selbst auszurechnen, welcher Betrag ihnen am Ende zur Verfügung steht und zu welchem Zweck die verschiedenen Beträge abgezogen werden. Klingt trocken, interessiert die Schüler aber tatsächlich.

In diesem Zusammenhang haben eine meiner Abteilungsleiterinnen und ich mal den Begriff heimlich unterrichten aus der Taufe gehoben. Ich kam in die Klasse, um sie abzulösen, es war totenstill, alle SuS rechneten Dreisatz und Prozente als gäbe es kein Morgen. Bea hatte wieder heimlich Unterricht gemacht. Die SuS hatten sie quasi gezwungen, den Rechenweg noch einmal zu erklären, denn sonst wären sie nie vom Brutto zum Netto gekommen. Wir versuchen in solchen Fällen unser Grinsen auf den Flur zu verlegen.

Was Governor Andrew Cuomo seit Beginn der Corona-Krise macht, ist auch nichts anderes als heimlich unterrichten. Ich weiß allerdings nicht, ob er dabei grinst.

Während ich meinen Haushalt dem Frühjahrsputz des Jahrhunderts unterziehe, höre ich die Pressekonferenzen aus den USA. Meistens sind es drei. Die Reihenfolge ist immer die gleiche. Den Anfang macht am (amerikanischen) Morgen, Bill de Blasio, der Bürgermeister von New York. Sechzig Minuten.

Im Laufe des Vormittags tritt dann Cuomo an. Sechzig bis neunzig Minuten. Gegen Abend ist es dann die Trumpshow mit zwei Stunden und mehr. Bis dahin hat der Präsident dann hinreichend ferngesehen und kann reagieren. Er ist nur einen Buchstaben weit weg von regieren. Und ich habe Unmengen von Wäsche gewaschen und gebügelt, die Schränke von innen und von hinten geputzt und gekocht.

Was macht Cuomo in seinen Konferenzen: Er veröffentlich die neuesten Daten, erklärt, was er daraus folgert und beschreibt dann, welche Verhaltensweisen sich für die Bevölkerung von NY daraus ergeben. Das ist an sich schon pädagogisches Verhalten. Und er sagt de Blasio gelegentlich, was er darf und was er nicht darf. Meistens letzteres.

In der frühen Phase der Krise hatte Cuomo den schwersten Job. Die Kurve stieg an, als hätte sie ein Potenzmittel genommen und die New Yorker Krankenhäuser hatten dem nichts entgegenzusetzen.

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Fünf Unterrichtseinheiten von Cuomo an Trump habe ich eingefangen:

1.       Organisation

Es fehlt überall an Material, Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung für die Schwestern und Pfleger zu allererst.

Cuomo: Es wird eine zentrale Stelle eingerichtet, der jedes Krankenhaus meldet, was es hat. Wenn es irgendwo knapp wird, kann man sich dort melden. Dann wird das Material von einem Ort zum anderen gefahren. Das schlägt er auch für die Bundesstaaten vor, wenn NY das Schlimmste hinter sich hat.

Trumpshow: Wir werden zwischen den Staaten das Material so bewegen, dass es immer dort ist, wo es am meisten gebraucht wird.

Message angekommen. Unterricht hat funktioniert.

Nächste Einheit: Betten haben wir genug, aber wir brauchen Leute.

2.       Die Army

Cuomo: Also es gibt ja die Army. In der Army sind viele Ärzte und Krankenschwestern. Die könnte man ja nach New York schicken, um dort zu helfen. Die Botschaften sind klar und in Hauptsätzen mit nicht viel mehr als fünf Wörtern verpackt. Man will den Schüler nicht überfordern.

In der nachfolgenden Trumpshow erfolgt die Lernerfolgskontrolle: Ich werde die Army mit ihren Ärzten und Krankenschwestern nach New York schicken, um dort zu helfen. Ok. Geschafft.

3.       Gemeinsam agieren

Da es keine nationale Führung gibt und der Präsident sich nur Sorgen um seine Einschaltquoten macht, bilden zwei Gouverneure Bündnisse: Gavin Newsom, der kalifornische Gouverneur an der West- und Andrew Cuomo an der Ostküste. Sie versuchen ihr Vorgehen mit den angrenzenden Staaten zu koordinieren, damit sie sich nicht gegenseitig sabotieren.

In der Trumpshow heißt es dann ausdrücklich, dass der Präsident die Staaten auffordert gemeinsam zu agieren. Yesss.

Der Comedian Trevor Noah scherzt: Wäre es nicht toll, wenn alle 50 Bundesstaaten einen gemeinsamen Weg finden würden? Dann bräuchte man nur noch einen Namen, Gemeinsame Staaten oder so etwas ähnliches, er würde darüber nachdenken.

(PS. Ich habe noch nicht gelernt, wie man You-Tube-Videos bearbeitet. Die entsprechende Passage zwischen Minute 7 und 10.)

4.       Die Wirtschaft vorsichtig wieder zum Laufen bringen

Cuomo schlägt in seiner Pressekonferenz vor, sich andere Länder auf der Erde anzusehen, die mit dem gleichen Problem kämpfen. Wie ermöglichen sie ihrer Wirtschaft einen Wiederaufschwung, ohne dass die Infektionsrate wieder steigt? Es tut mir leid, Governor, diese Stunde ist Ihnen nicht gelungen, der Schüler hat nicht zugehört.

Trump erwähnt andere Länder zunächst nur um zu erklären, dass es vielen schlechter gehe als den USA und als es niemandem mehr schlechter geht als den USA, sagt er alle würden nach Amerika schauen, um zu sehen, wie man es dort macht. Das ist in jedem Fall so, seit er vorgeschlagen hat Menschen Desinfektionsmittel zu spritzen und sie von innen zu beleuchten.

Zwischendurch wird immer wieder klar, wie wenig die beiden sich mögen.

Cuomo verbringe seine Zeit mit Jammern, nach allem, was man für ihn getan habe. Er solle sich mal an die Arbeit machen, statt immer nur Forderungen zu stellen, sagt Trump. Und die Autorität des Präsidenten sei total.

Wenn Trump Zeit zum Fernsehen habe, sei es wohl an ihm an die Arbeit zu gehen. Und ob er ihm jetzt Blumen schicken solle, sagt Cuomo. Und übrigens, Trump sei kein König.

Es wird kolportiert, dass Trump sich JEDE Presseminute von Cuomo ansehe. Umgekehrt sei das nicht der Fall.

Die Assoziation, die ich am häufigsten habe, ist die zwischen dem Gladiator und dem Kaiser in dem Film mit Russel Crowe. Der Kaiser hat die Macht, weiß aber nicht wirklich etwas damit anzufangen, außer sich selbst zu feiern.  Er ist zwar der größte, aber neidisch auf den Feldherrn, der für seine Arbeit gelobt und geachtet wird.

Die bisher letzte Unterrichtseinheit:

5.       Testing

Cuomo kann seinen Staat nicht wiedereröffnen, wenn er zu wenig Testkapazität hat. Menschen im Gesundheitssystem, alle, die mit Lebensmitteln zu tun haben, alle müssen getestet werden und das nicht nur einmal. Er hat zu wenig Labore und diese haben zu wenig Chemikalien. Sie müssen aus China importiert werden. Der Governor hat nicht die Macht, eine internationale Lieferkette aufzubauen. Er erklärt das Problem wiederkehrend in seinen Briefings. Kurze Sätze, klare Botschaften. Ich kann hier das machen, das andere musst du machen. Arbeitsteilung.

Nichts passiert. Testen sei Sache der Bundesstaaten, sagt der orangefarbene Präsident. Und er wiederholt gerne, dass die Gouverneure ihn brauchen. Pikiertes Näschen in die Luft.

Also bekommt er seine Blumen am Ende doch noch. Im letzten Drittel des April äußert sich Cuomo so lobend über Trump, dass dieser daraus einen Videoclip macht, den er in seiner Trumpshow abspielt. Und Cuomo fährt nach Washington für eine Einheit in Privatnachhilfe.

Ob dieser Unterricht von Erfolg gekrönt war, ist bei der Redaktion dieses Textes noch offen.

Was bekannt ist: Es gibt mittlerweile mehr als 50.000 Tote in Amerika und 24 Millionen Arbeitslose.

Der letzte ernstzunehmende Experte, den ich gesehen habe, geht von der Möglichkeit von 800.000 Toten bis zum Ende der Pandemie in den USA aus.

Und ich beende meine Nachhilfestunden und bleibe in Politik und Diplomatie eine Null.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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