Ich mag Kinder. Da ich keine eigenen habe, mag ich einfach die der anderen. Als Au-pair-Mädchen habe ich frühzeitig gelernt, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit sie brauchen und ich habe versucht, die Mütter in meinem privaten und beruflichen Umfeld zu unterstützen. Bis zu diesem Tag im Jahr 2002.
Zu dem Zeitpunkt arbeite ich in den Ausbildungsbegleitenden Hilfen und betreue dort alle Mechaniker, vom Industriemechaniker über Kfz bis zum Tankwart. Ja, Tankwart ist ein Ausbildungsberuf. Sie lernen eine interssante und anspruchsvolle Mischung aus Gummibärchen und Kfz-Mechatronik. Wir arbeiten hauptsächlich nachmittags und abends, weil die Schüler nach der Berufsschule kommen. Ich mache meine Arbeit dort sehr gerne.
Gegen zwölf an diesem Tag kommt Gudrun auf mich zu und fragt, ob ich ihre Gruppen übernehmen könne, ihre Tochter sei krank. Ich denke nicht nach, sage Ja und lasse sie gehen.
Es wird ein turbulenter Nachmittag, sie hat die Kaufleute und das kann ich eigentlich nicht. Irgendwie klappt es, aber ich bin platt an dem Abend. Wie ein kleiner Holzwurm arbeitet sich ein Gedanke durch mein Hirn:
Gudrun ist doch schon über fünfzig. Wie alt ist denn da die Tochter? Und wie dramatisch ist die Krankheit, dass Gudrun sofort nach Hause muss?
Ich sehe ihr direkt in die Augen, als ich sie am nächsten Tag frage. Sie weicht meinem Blick aus.
Die Tochter ist neunzehn. Und sie hat Grippe.
Sie hört den leisen Knacks in meiner Seele nicht, als etwas Kostbares zerbricht. Aber sie sieht, dass sich in meinem Gesicht etwas verändert, dreht sich um und geht. Hat sie sich geschämt?
Ich hoffe es.