Die Abende sind friedlich und kurz oder lang, je nachdem, wie man die Sache betrachtet. Normalerweise stelle ich gegen sechs Uhr abends die Arbeit ein, wasche mich und esse etwas. Kurz sind die Abende, weil ich früh schlafen gehe und lang, weil das Unterhaltungsprogramm übersichtlich ist. Ich kann Radio hören oder lesen. ,Lesen ist wie früher: Sich ganz in die Welt des Buches begeben, manchmal die ganze Nacht, ohne die geringste Ablenkung. Ab und zu neues Holz ins Feuer legen und weiterlesen. Ab und zu ins Feuer starren und weiterlesen. Selbst wenn ich um halb elf ins Bett gehe, habe ich mehr als vier Stunden am Stück gelesen. Vielleicht brauchen die Menschen Fernseher so dringend, weil sie ihre Feuerstelle so vermissen. Nicht einmal die kaputte Kaffeemaschine kann mich schocken, solange meine Feuerstelle in der Nähe ist.
Am Anfang höre ich im Radio fast nur France Bleu Limousin. Es wird ordentlich geplappert, aber man erfährt auch viel aus der Gegend, na gut eigentlich nur aus der Gegend und nach einer Stunde France Bleu habe ich immer das Gefühl, dass Frankreich und ich in einer geschlossenen, gut geschützten Blase langsam und friedlich durch das Universum gleiten. Das Ganze wird musikalisch untermalt vom Hit des Jahres, der kommt gefühlt alle zehn Minuten und ich kann ihn am Ende der Ferien auswendig. 2010 ist es Christoph Maé mit J'ai laissé. Deutschland könnte friedlich oder unfriedlich untergehen, in meiner Blase würde ich das sehr zeitverzögert mitbekommen. Das ist erholsam.
Aber manchmal hängt auch in unserer unaufgeregten kleinen Welt der Haussegen schief. An diesem Abend meldet das Radio, dass ein bestimmter Käse des Massif Central in diesem Jahr nicht produziert werden kann. Normalerweise kommt er aus einem Benediktinerkloster und benötigt wird ein Lab, bei dem Walnüsse eine Rolle spielen. Der Lab ist schlecht geworden. KEIN BENEDIKTINERKÄSE DIESES JAHR. Une catastrophe...
Ich weiß schon lange, dass ich niemals auch nur ansatzweise Französin werde, aber an solchen Stellen ist es sehr auffällig. Mein erster Gedanke ist: Dann essen sie halt einen anderen. 350 bis 400 Sorten Käse hat Frankreich, für jeden Tag im Jahr einen und Sonntags zwei. Das soll wohl reichen. Nix kapiert Frau Wichmann, setzen, sechs. Marie-Antoinette soll für so ein Gedankenkonstrukt geköpft worden sein.
Das Radioprogramm wird unmittelbar nach Eintreffen der Nachricht für eine Sondersendung unterbrochen. Ursachenforschung wird betrieben: Wer ist schuld? Die Walnüsse, der Labproduzent, der Labtransporteur, der Sommer, der Winter, das Wetter? Das Kloster selbst? Dieu?
Hypothesen werden aufgestellt und verworfen, Experten werden befragt. Das Ausmaß des Schadens wird abgeschätzt: Wer ist betroffen? Wie schlimm ist die Lage wirklich? Wem muss man sein Mitgefühl aussprechen? Ok, Verdienstausfall für das Kloster, da ist mein deutsches Hirn dabei. Die Restaurateure und Bewohner der Umgebung des Klosters, Feinschmeckerrestaurants in Paris und auch wir im Limousin müssen ein ganzes Jahr lang etwas anderes essen. Quelle horreur.
Soforthilfe wird geleistet: Affineurs de fromage, Käseexperten erklären sich bereit zu dem Problem Stellung zu nehmen und helfen sachkundig und sensibel den Betroffenen. Welcher Käse aus welcher Region kann, zumindest vorübergehend, eingesetzt werden, um die schlimmste Folge zu verhindern: Gar kein Käse.
Nach einer dreistündigen Sondersendung kann ich mich entspannen: Frankreich weiß sich im Katastrophenfall zu helfen.
Ein halbes Jahr später ist wieder Unruhe in der Käsewelt. Der Frischkäse Philadelphia kommt nach Frankreich.
Kommen die Besucher aus dem anderen Universum in friedlicher oder aggressiver Absicht? Was ist zu tun? Ist die Jugend in Gefahr? Steht die Zukunft Frankreichs auf dem Spiel?
Ich verhalte mich dieses Mal richtig. Bei der ersten Käsekrise habe ich das Problem nicht ernst genommen und so wichtige Informationen verpasst. Dieses Mal leite ich sofort die richtigen Maßnahmen ein, was mir aus zwei Gründen nicht schwer fällt: Ich habe gesehen, wie souverän in der ersten Käsekrise gehandelt wurde und ich bin schon als Schulmädchen in den 1970er-Jahren mit Handlungsanweisungen für einen Atomangriff ausgestattet worden: zu Hause bleiben und Nachrichten hören. Dort wird eine Sondersendung angekündigt und zur kollektiven Beruhigung das Lied des neuen Radiojahres abgespielt. L'horloge tourne.
Wieder gibt es also eine Sondersendung, dieses Mal im voraus organisiert. Der kleine Käseeindringling ist von der Werbemaschine des Herstellers Kraft angekündigt worden. Der débat ist sehr französisch: eine Seite Pro, eine Seite Kontra und dann die Frage Was nu? These, Antithese, Synthese.
Wir brauchen so etwas hier nicht. Wir haben unseren eigenen Käse. Ja, aber es ist nett, mit der Welt in Kontakt zu sein und New-York-Cheesecake schmeckt doch super. St Moret macht ein ganz ähnliches Produkt und Kiri hat die gleiche Konsistenz...
Verbraucher, Küchenchefs und andere Betroffene werden befragt.
Wir fassen nach den üblichen drei Stunden die Ergebnisse der Analyse zusammen.
- Frankreich ist DAS Käseland. Das weiß die ganze Welt.
- Frankreich hat in den 1990er Jahren eine Werbekampagne teils ignoriert, teils belacht und souverän überlebt, in der die Niederlande in Frankreich mit dem Slogan warben: Holland - das andere Käseland.
- Philadelphia ist überhaupt kein Käse.
GEHT DOCH.
Heute mit Bonusprogramm:
Ich habe meinen LeserInnen das strapazierte Zitat von De Gaulle bis hierher erspart. Wer es nicht kennt, hier ist es.
Marie-Antoinette wird unterstellt, sie habe angesichts des revoltierenden Volkes gesagt: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie halt Kuchen essen. Das Zitat ist historisch nicht belegt, wird aber rumgereicht.
Affineur de fromage ist ein ernstzunehmender Beruf in Frankreich. Der Verfeinerer, so die Übersetzung, kauft Käse und pflegt ihn so lange, bis er (der Käse) seine Bestform erreicht hat. Im Idealfall empfiehlt er noch den passenden Wein. Alles zusammen ist dann teurer als im Supermarkt, lohnt sich aber. Kauft das beste Baguette, das ihr kriegen könnt. Lasst die Butter zwischen Käse und Brot weg. Ladet den nettesten Menschen ein, den ihr kennt. Setzt euch an einem Frühlingsabend an den Fluss. Kulinarisch habt ihr so etwas noch nicht erlebt. Für alles andere ist der affineur nicht verantwortlich.
Ich habe seit den 1970er Jahren, viele Jahre danach und in großen Mengen Philadelphia gegessen und dachte, es habe mir nicht geschadet. Ich denke noch darüber nach.