Welpen, kleine und große

3 min read

Meditieren mit den Karosseriebauern

Reflection
Photo by Mitchell Griest / Unsplash


Wir schreiben das Jahr 2002 und ich bin mal wieder außerhalb des Schulsystems unterwegs. Für alle, denen das neu ist: in der Bundesrepublik gibt es mehrere Bildungssysteme. Das allen bekannte Schulsystem, in das die Kinder und Jugendlichen gehen und das parallele. In dem parallelen Bildungssystem ist das Wort Träger ein wichtiges Wort. Denn der Träger schlägt dem Staat Maßnahmen vor und wenn die Ausschreibung gewonnen wird, darf der Träger die Maßnahme organisieren und der Staat bezahlt.
Der Träger wird dann zum Maßnahmeträger und im besten Fall, nämlich wenn er es ernst meint und in der Maßnahme tatsächlich etwas gelernt wird,  sogar zum Bildungsträger. Träger gibt es in großen Mengen. Es gibt sie in privatwirtschaftlich und in gemeinnützig. In gut und in schlecht.
Solche Maßnahmen können sein: Reintegrationskurse für Arbeitssuchende, außerbetriebliche Maßnahmen für nicht ausbildungsreife Jugendliche, Integrationsmaßnahmen für Zuwanderer und vieles Buntes mehr. Der Sozialstaat lässt sich so einiges einfallen um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die Träger verdienen gut am Tragen. Und wir, die LuL aus dem Jahrgang 1964 sind mittendrin, denn für uns gibt es keine Stellen in den Schulen.
2002 also bin ich Angestellte eines Trägers und meine Maßnahme heißt AbH: Ausbildungsbegleitende Hilfen. Das bedeutet, dass Berufsschüler, die in der Berufsschule abschmieren, warum auch immer, kostenlose Nachhilfe bekommen. Ich betreue dort, alles, was mechanisch ist: Industriemechaniker, die Kfz-Abteilung, Karosseriebauer, die wenigen Zweiradleute und die Tankwarte, die eine lustige Mischung aus Motortechnik und Gummibärchen lernen, weil sie sowohl in der Werkstatt als auch im Shop arbeiten müssen. AbH ist ein Erfolgsmodell und wird finanziell zu meiner Zeit gut ausgestattet.
Wir haben tolle Räumlichkeiten, wir haben Sozialpädagogen, mit denen wir Seite an Seite arbeiten. Die Gruppen sind klein und die SuS sind freiwillig da. Das Konzept ist ein Erfolg. Die SuS lernen das Lernen mal anders kennen und die meisten schaffen die Prüfung nicht knapp sondern gut.
In diesem Herbst  habe ich eine große Gruppe Kfz-Mechatroniker und eine große Gruppe Karosseriebauer kurz vor der Abschlussprüfung. Die Qualität unseres Konzepts hat sich herumgesprochen. Meine Freundin Heidrun verarztet erfolgreich den medizinischen Bereich. Hier haben wir uns kennengelernt.
Innerhalb unseres freundschaftlichen Rahmens raffen sich die Karos zu einem Geständnis auf: Sie haben Angst und sie schlafen schlecht. Innerhalb dieses Systems hat nicht eine Sekunde lang ein Schüler daran gezweifelt, dass ich ihm in Mechanik und auch sonst etwas beibringen kann. Um mich als Frau, Mechanikerin und Lehrerin in Frage stellen zu lassen, muss ich mich an Hochschulabsolventen wenden.
Ich zerbreche mir also den Kopf, was wir gegen die Schlaflosigkeit tun können und beginne die Gruppe mit Meditation in Kontakt zu bringen. Ich weiß nicht, ob es Vertrauen oder Verzweiflung ist, aber es gelingt. Die CD wird herumgereicht und nachgekauft. Sie schlafen nachts wieder und sie sind beim Lernen wieder wach. Die Kfz-Abteilung wird eifersüchtig. Sie gehen alle in die gleiche Schule, das Heinrich-Hertz-Berufskolleg in Bonn und sie haben mitbekommen, dass die Karos etwas machen, was ich ihnen VORSÄTZLICH VORENTHALTE.

Where is the love sung by The Black Eye Peas recreated in a tunnel underpass.
Photo by Emily Morter / Unsplash


Also werde ich zur Rede gestellt. Was da gemacht werde? Warum ich das mit ihnen nicht mache?

Und was zur Hölle ist Meditation?
Es ist ein langer Spätsommer, es ist Abend und wir stehen nach dem Unterricht auf dem großen Balkon und rauchen. Ich tue mein Bestes.
Ok, dann schließt mal die Augen. Atmet tief und ruhig. Riecht mal. Es riecht noch nach Sommer. Fühlt mal, die Luft ist noch warm.
Könnt ihr eine Farbe sehen? Nicken mit geschlossenen Augen.
Ist es dreidimensional? Könnt ihr einen Raum sehen? Hmmm. Sie können.
Schaut euch mal ein bisschen um in diesem Raum. Hat er Wände? Eine Decke? Fühlt er sich gut an? Nicken.
Schaut doch mal die Wände entlang... Ist da irgendwo eine Treppe? Zwei nicken, drei nicht.
Hmm, bleiben wir bei den Wänden, vielleicht ist ja irgendwo eine Tür? Alle nicken.
Ich lasse sie noch einen Moment in Ruhe, sie sehen so entspannt aus. Dann bitte ich sie, langsam zurückzukommen und die Augen wieder zu öffnen. Sie waren höchstens zwei Minuten unterwegs, aber es dauert einen Moment, bis ihre Augen wieder fokussieren. Die Zigaretten sind verglüht.
Ich erkläre ihnen, dass wir die Tür hätten öffnen können um hindurchzugehen. Und dass der Zustand jenseits der Tür tiefe Ruhe und Meditation sei.
Es ist die Zeit der Marcos, die Kevins sind noch nicht da.
Marco 1 hat riesige Augen.

(Ich bitte jetzt alle, die das Rheinland kennen, in diesen Satz das kehlige rheinische L einzufügen.)
Er schüttelt fassunglos den Kopf, sieht mich an und sagt mit tellergroßen Augen:
Hilllde, ich hab voll die Tür jesehn.

In diesem Jahrgang machen fröhliche, entspannte und gut ausgeschlafene Teilnehmer unserer Maßnahme die besten Prüfungen, die sie sich vorstellen konnten. Im Jahr darauf haben wie die Maßnahme verloren. Ich glaube, wir waren zu teuer.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

Read more posts by this author.

Bonn