Bonn 1989
Die Wiedervereinigung ist noch nicht vollzogen, aber die Mauer ist gefallen. 1989 arbeite ich für das Institut Français de Bonn, das Franzöische Kulturinstitut. Es ist einer der besten Studentenjobs, den ich hatte.
Ich habe mit vielen Jobs mein Studium mitfinanziert, weil die 450 Maaak, die ich von meinen Eltern bekommen habe, eben nur ungefähr die Hälfte des Budgets waren. Das hatte Vor- und Nachteile. Ich bin sehr früh in Kontakt mit der Realität gekommen. Ich habe Achtung vor allen Berufen, denn jeden Beruf kann man gut oder schlecht ausüben. Ich habe sehr viele verschiedene Situationen erlebt und mich darin bewährt oder blamiert. Ich habe sehr viele verschiedene Menschen kennengelernt. Ich kann mit sehr wenig Geld überleben und trampen kann ich auch. Zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr bin in gut hundert Mal nach Paris und zurück getrampt, weil ich mir keine Fahrkarte leisten konnste. Das alles empfinde ich als Vorteil.
Aber: Ich hatte mit dreißig einen Bandscheibenvorfall auf zwei Lendenwirbeln, der mich, wie am Spieß schreiend, ins Krankenhaus gebracht hat, ich hatte lebenslang eine Tendenz zur Selbstausbeutung und ich war am Ende meiner Lehrerinnenausbildung an der Grenze zum Burn-Out, so erschöpft war ich. Soweit die Nachteile.
Das Institut Français bezahlte gut, fünfzehn Mark und die Arbeit war toll. Wir haben unter ein aus Straßburg importiertes zeitgnössisches Musikfestival Musica '88 und 89' organisiert.


Ich habe den französischen Botschafter, Serge Boidevaix, kennengelernt und war zum Nationalfeiertag zwei Mal in der Residenz eingeladen. Ich habe den Deutschland-Korrespondenten von Le Monde, Luc Rosenzweig, kennengelernt und war beim zwanzigsten Geburtstag seiner Tochter Judith bei ihm zu Hause. Ich war 1988 bei der Wiederwahl von François Mitterand beim Fernsehsender TF1 eingeladen, habe Willy Brandt gesehen und mit Ulrich Wickert zusammen an der Theke gestanden. Ich habe einen französischen Journalisten auf einem Marxisten-Kommunisten-Kongress begleitet und mich dabei nicht mit Ruhm bekleckert. Ich konnte das Fachvokabular nämlich nicht. Und ich habe einen weiteren Journalisten begleitet, José Hanu von La Voix du Nord, der Stimme des Nordens aus Lille. (Meine liebe Steffie, du hast mein Verhältnis zu Lille dann wieder geheilt.)
Anfang 1989 waren die Franzosen unruhig, ein wiedervereinigtes Deutschland mit 80 Millionen Menschen kam ihnen dann doch recht groß vor. Darüber wollte Hanu schreiben. Mein Job war der seiner Assistentin: Hotelzimmer reservieren, mit den verschiedenen AnsprechpartnerInnen Termine vereinbaren und natürlich dolmetschen. Die Franzosen bringen mich mit ihren Berufsbezeichnungen immer wieder zum Lachen: Ein Vorstandsvorsitzender, ein CEO heißt in Frankreich président directeur général, PDG. Ich finde ja, da geht noch was: Warum nicht noch royal, universel oder gottgesandt? José Hanu hatte auf seiner Visitenkarte Grand Reporter stehen; das fand ich auch lustig. Viiiiel später habe ich dann gelernt, dass ein Grand Reporter bei einer Zeitung jemand ist, der sich selbst aussucht, worüber er schreibt.
Die Arbeit war äußerst gut bezahlt und sehr interessant. Ich durfte auch die Restaurants aussuchen, in denen wir unsere Dienstbesprechungen hatten. Grins. Er kam zwei Mal und dann schrieb er. Ich habe, während er schrieb, mit dem Geld der Zeitung meine Garderobe aufgerüstet. Und dann kam der Briefumschlag. Drei große Leitartikel und ein Brief. Der Brief hat mich völlig überrascht.
Die Anrede Chère Amie (falsch geschrieben, siehe unten), teure Freundin, war schon ziemlich drübber.

Und dann kam die große Kelle:
Er bedankte sich für meine höfliche, kompetente, intelligente und effektive Hilfe. Er pries die große Klasse, die ich in meinem Benehmen an den Tag gelegt hätte. Er findet ich hätte eine große Karriere verdient. Okeeeeeeeeeeee.

Ich wurde misstrauisch. Nicht, dass ich zu bescheiden wäre. Ich bin überhaupt nicht bescheiden. Meine Ansprüche an das Leben, meine Gegenüber und mich selbst sind hoch. Ich weiß, wann ich gut, mittel oder schlecht gearbeitet habe. In diesem Fall hatte ich gut gearbeitet. Aber diese Häufung von Adjektiven?
Im weiteren Verlauf des zweiseitigen Briefes kam eine Andeutung, dass das, was er geschrieben hat, vielleicht nicht meinem Begriff von Wahrheit entspreche. Als ich das las, war ich endgültig überzeugt, dass etwas faul sein müsse.
An den Inhalt erinnere mich nur vage. Ich habe die Artikel nicht sehr lange behalten. An einigen Stellen wichen sie stark von dem ab, was ich gehört hatte. Aber was mich wie eine Keule aus dem dünnen Papier der Zeitung traf: Er schrieb von l'étudiant, dem Studenten, der für ihn gedolmetscht hatte. Ich war aber étudiantE, die Studentin.
Er wollte mich wenig noch einmal engagieren, also hatte ich ihn am Telefon und habe ihn danach gefragt. Es gibt Menschen, die mit Worten Nebel werfen können. Er gehörte dazu. Aber ich konnte aus der Antwort schließen, dass das fehlende e kein Zufall war.
Ich habe den Job abgelehnt, ihm ein schönes Leben gewünscht und die Geschichte vergessen, bis ich den Brief beim Aufräumen wiedergefunden habe. Da ist mir dann aufgegangen, dass ich lebenslang beleidigt war.