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Das VAR RP 26800 - (VAR ist eine Firma, die Spezialwerkzeug im Zweiradbereich herstellt)

Es ist ein guter Tag nach einem guten Jahr. Lehrer und Schüler sind sich häufig nicht einig. Aber ich denke, alle finden, dass die Stimmung kurz vor den Sommerferien etwas besonderes ist. Die großen Schlachten sind geschlagen. Zeugnisse, Noten und Prüfungen sind abgelegt, eingetragen und ausgedruckt. Wir verbringen noch Zeit mit unseren Klassen, aber es ist ein bisschen informeller. Alle freuen sich auf die große Möhre, der wir als artige Ackergäule zumindest im zweiten Halbjahr hinterherstapfen: sechs Wochen Sommerferien.

Ich bin mit einer halben Klasse in der Werkstatt, dem Berufsgrundschuljahr. Wir räumen auf, auch hier haben wir einige Schlachte geschlagen und entsprechend sieht es aus. Die Stimmung ist friedlich, mehr Geplauder als Unterricht. Die Fenster sind offen, draußen ist Sommer.

Das BGJ ist eine Option für Schüler, die nach ihrer Schullaufbahn keine Ausbildung angefangen haben. Sie können in diesem einen Jahr den mittleren Schulabschluss nachholen. Häufig versammeln sich in dieser Klasse Schüler, deren Begabung man nicht auf den ersten Blick erkennt. Aber immer wieder treffe ich hier junge Leute, die im Dunkeln leuchten. Alberto ist einer von ihnen. Er denkt schnell, richtig und ohne Umwege. Er ist neugierig und saugt alles an Wissen auf, was meine kleine Fahrradwerkstatt hergibt. Er will unbedingt lernen, wie man Laufräder einspeicht, hat dabei aber eine Bitte: Er möchte selbst herauskriegen, wie das geht. Ich lasse ihn und er schafft es tatsächlich, alle 36 Speichen an der richtigen Stelle zu befestigen. Hut ab. Immer noch und immer wieder.

Darum hat er heute die ehrenvolle Aufgabe, das Durcheinander von ungefähr 200 Speichen im Schrank der Länge nach zu sortieren. Das ist reine Fleißarbeit und man benutzt dafür ein Speichenlineal.

Das ist nicht meins. Das von VAR kommt noch.

Er soll die Speichen ausmessen, mit Kabelbinder zusammenbinden und die Länge dranschreiben. Kein Job, für den man einen Nobelpreis bekommt. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass es bei ihm nicht weitergeht. Er misst und misst, immer wieder die gleiche Speiche, dann eine andere, dann wieder die erste. Er schüttelt sein junges Haupt und misst. Wer viel misst, misst Mist. Ich glaube, das hat mein Vater mal gesagt.

DEN Workflow hatte ich mir anders vorgestellt. Zügig dranhalten, ablesen, zuordnen, Bündel schnüren. 30 Minuten. Fertig. Nix da.

·         Frau Wichmann, das geht nicht.

·         Alberto BITTE, knurre ich ihn pädagogisch wertlos an. Wir haben heute ECHT viel zu tun. Da gibt es doch nichts zu können.

·         Es geht wirklich nicht.

Da er sonst immer so brillant war, habe ich ihm am Anfang der Stunde nur kurz gezeigt, wie man ein Speichenlineal benutzt. Speiche oben einhängen, flach dranhalten, Länge ablesen. Praktikantenjob.

Die Werkstatteinrichtung ist relativ neu, war sehr teuer und ist schön. Die Speichenlineale sind aus Edelstahl, von der Firma VAR und sind auch schön. Und auch ganz schön teuer. Die Werkstattausrüstung soll viele Generationen von Schülern überleben, da ist Plastik keine Option.

Ich setze mein Muss-ich-mich-wirklich-um-alles-selbst-kümmern-Gesicht auf und schau mir das mal an.

·         Ich kann es nicht ablesen, sagt Alberto.

Gemeinsam starren wir auf Speiche und Lineal und ungefähr gleichzeitig sehen wir es dann:

Hier ist eine Schweigeminute vorgesehen, damit auch die LuL mal in Ruhe schauen können. Oder eine Munite. Die haben Clara und ich mal erfunden. Sie hat neunzig Sekunden.

Habt ihr es?

Noch mal schauen.

Jetzt ok?

Vielleicht tun wir heute mal etwas ganz Verrücktes: Wir zählen, wie viele Millimeter ein Zentimeter hat.

Das habt ihr noch nie gemacht, oder?

Ich auch nicht und schon gar nicht auf einem Lineal.

Aus Anlass des passenden Wetters hat der Zentimeter heute mal acht Millimeter. Dafür ist jeder Millimeter dank der Großzügigkeit des Herstellers etwas größer als der herkömmliche quasi dahergelaufene Millimeter. Ein Supermillimeter.

Alberto und ich sehen uns an. Ich sehe in seinen Augen einen Rest von Vertrauen in die Welt der Erwachsenen verschwinden. Er bekommt eine Entschuldigung, eine kleine Extrapause, und darf dann Schläuche falten.

Natürlich hat er Recht. Auf diesem Lineal kann man nichts ablesen. Wenn man von der 12 weiterschaut, kann man sich noch weismachen, dass danach 12,1 cm kommt. Aber danach wird es unübersichtlich. Ist die Markierung danach noch 12,2isch oder schon 12,3isch? Und welcher der fünf Millimeter zwischen 12 und 12,5 fehlt eigentlich? Das ist ein philosophisches Problem, das ich an den Händler weiterleiten werde, der uns die Werkstattausrüstung verkauft hat. Wir haben über 12.000€ ausgegeben. Dazu muss ich mein schon halb heruntergefahrenes System wieder anwerfen und das nervt. Ich bin doch schon im Ferienmodus. Die Antwort am Telefon lautet:

·         Das glaube ich nicht.

·         Ich schicke ein Foto.

Danach ist mein Ansprechpartner für mich nie wieder zu erreichen. Nie wieder. Geht nicht dran, lässt sich verleugnen, antwortet nicht auf Mails. Die Zeit drängt, also nehme ich direkt Kontakt mit VAR auf. Die Antwort am Telefon lautet:

·         Das kann nicht sein.

·         Ich schicke ein Foto.

Der Mitarbeiter wiederholt:

·         Das kann nicht sein.

Und führt aus:

·         Unser Werkstattmeister arbeitet schon seit Jahrzehnten damit.

·         Herzlichen Glückwunsch. Ich schicke ein Foto.

Ich schicke das Foto, eine Reaktion gibt es nicht. Weitere Telefonversuche meinerseits bleiben erfolglos. Ich muss nicht jeden Konflikt bis zum Ende ausfechten, informiere den Schulleiter und fahre in Urlaub. Später habe ich einfach eine Unterrichtseinheit daraus gemacht. Schließlich haben wir sechs von den Dingern.

Epilog:

Ein Jahr später bin ich auf einer Zweiradmesse und stolpere über den Stand der Firma VAR.  Sie haben eine entzückende Werkstatt mit Laboranmutung aufgebaut. An der Wand hängt eine wohlgeordnete Wand mit Spezialwerkzeugen, die wir alle lieben, weil ihr Gebrauch uns von dem Laien abhebt, der mit Baumarktwerkzeug an seinem Rad herumstochert. Sauber glänzend hängt dort auch das Speichenlineal und hat nach wie vor acht Millimeter pro Zentimeter. Die Qualität ist also gesichert.

Epilog zum Epilog:

Wir haben natürlich versucht, eine Erklärung zu finden. Hier unsere beste. In der Zweiradwelt ist die Einheit Zoll recht weit verbreitet. Um die nächstkleinere Einheit herzustellen wird ein Zoll (25,4mm) durch acht geteilt. 1 3/8 Zoll ist ein völlig normales Maß. Das kann man auf Fahrradreifen nachlesen. Die zweite Seite des Lineals hat eine Zollskala und diese stimmt. Vielleicht hat der Produktdesigner, der das Lineal so schön gemacht hat einfach die Zollseite des Lineals maßstabgerecht verkleinert? Ich habe natürlich mit einem Lineal meines Vertrauens den Zentimeter noch nachgemessen. Der stimmt wenigstens.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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Bonn