1986/87 verbringe ich mein zweites Jahr in Paris, dieses Mal zu Studium. Zu dieser Zeit gibt es ein Au-Pair-System, das einfach super ist. Man kann Voll-Au-Pair werden mit 30 Stunden Arbeit pro Woche, Halb-Au-Pair mit 15 Stunden und man kann Zimmer gegen Arbeit machen. Das ist die ideale Möglichkeit ein Zimmer in Paris zu bezahlen, wenn man kein Geld hat. Deutsche Mädchen sind sehr beliebt.
Paris wurde nicht für Handwerker und Kleinbürger gebaut, davon habe ich euch schon erzählt, sondern für die Leute, von denen Jacques Brel sagt, ihr Papa habe Glück gehabt. Daher sind unter den schöne Zinkdächern chambres de bonne, Dienstmädchenzimmer vorgesehen. Jedes Haus hat zwei Eingänge, einen großen breiten mit Fahrstuhl für die Leute mit Geld und einen kleinen versteckten ohne Fahrstuhl für die arbeitende Bevölkerung ohne Glanz, ohne Erziehung, ohne Herkunft und ohne Zukunft. Was es mit der education, der Erziehung, auf sich hat, habe ich hier auch schon einmal angedeutet.

Ich komme aus Meckenheim, da kann man nicht von Herkunft im Sinne eines Pedigree sprechen. Wir waren die letzten Hippies. Die Ausstattung waren Jeans, selbstgestrickte Huftierpullover, Bundeswehrparkas, Boots, Atomkraft-Nein-danke-Anstecker, Teestuben und Hermann Hesse. Ich hatte keine Bewusstsein für gesellschaftliche Klassen, bevor ich nach Paris kam.
Das Großbürgertum, wie es in Frankreich noch existiert, hat in Deutschland der erste Weltkrieg abgeschafft. Die Reste agieren eher diskret. Großbürgertum heißt zunächst einmal: Altes Geld. Neureiche werden nur hereingelassen, wenn sie nützlich sind und entsorgt, wenn sie es nicht mehr sind. Im oberen Bürgertum lästert man über sie, im Großbürgertum ist einem die Zeit dafür zu schade, ein Blick zwischen Eheleuten reicht.
Fröhlich und zuversichtlich stelle ich mich in der Rue de la Trémoille bei Madame Auzépy vor. Das Zimmer ist im siebten Stock ohne Aufzug und genau das, was ich brauche. Eine Miniküche, eine Dusche, Schreibtisch, Bett, Zimmer voll. Mein neues Zuhause hat zehn Quadratmeter und kostet sieben Stunden Hausarbeit. Madame ist bescheiden, eigentlich ist zehn Stunden der Tarif. Sie erwähnt bei der Besichtigung stolz, dass in den 70er-Jahren eine Heizung verlegt worden ist. Und vorher?
Ich sage sofort zu. Ich wohne jetzt im sehr chicen achten Arrondissement im sogenannten Bermudadreieck: im Dreieck, das die Champs Elysée, die Avenue Montaigne und die Avenue George V. bilden. Es ist eine der teuersten Gegenden von Paris.

Die Wohnung ist 200m² groß und gehört der Familie sebstverständlich schon seit Ewigkeiten. Das Landhaus ist im Jura. Sehr diskret. Meine Arbeit ist angenehm und während einer Schicht gibt es immer eine Kaffeepause und Geplauder mit Madame. Monsieur ist Chefarzt an einer berühmten Pariser Kinik, sie arbeitet nicht. Die Eheleute siezen sich, das ist in diesen Kreisen Standard. Von den vier Kindern lerne ich drei kennen. Der Sohn Lionel hat sich in meine Vorgängerin verliebt und zieht jetzt mit ihr zusammen. Ob das erlaubt ist? Eine Deutsche? Aus dem Volk? Das Bild oben habe ich mir von einem Besteller ausgeliehen: Le guide du BCBG. BCBG steht für Bon Chic Bon Genre. Wenn ich mich richtig erinnere steht da zu lesen, dass die Mädchen unter dem Dach nur zum Üben sind und nicht zum Heiraten. Ich lese das nach, ich habe es gerade noch einmal bestellt. Gutes Anschauungsmaterial bietet auch der Film von Luis Buñuel, dessen Titel ich mir für den heutigen Blogpost ausgeliehen habe.
Eigentlich heiratet man in diesen Kreisen untereinander. Es werden sogenannte Rallyes veranstaltet, damit die Kinder einander näherkommen. Die Eltern rollen die Perserteppiche weg und dann wird im hübschen Zwirn getanzt. Die kleine Hilde staunt, lernt und ist weit weg von den Hardrock und Hey Jude-Feten der Meckenheimer Reihenhauskeller.
Die 17jährige Hélène lebt in dem Haushalt, den ich pflege und ihre Schwester Brigitte ist gerade in diesen zurückgekehrt. Sie hatte einen Arzt geheiratet, der sich aber dann als Landarzt in der Bretagne niedergelassen hat. Das gab Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Chanelkostüme. Die kosten ja vierstellig. Sie hat zwei sehr kleine Mädchen im Gepäck. Auch hier wird gesiezt:
Brauchen Sie eine neue Windel, Madeleine?
Non merci, Großmutter, piepst es auf Kniehöhe.
Ich komme mir ein bisschen vor wie im Zoo. Brigitte muss jetzt einen Beruf erlernen und im zarten Alter von 35 Jahren zum ersten Mal auf den Arbeitsmarkt. Sie macht einen Kurs in sécretariat de direction und ertränkt ihren Kummer in Martini. Ich räume zwei Mal pro Woche die Literflschen aus dem Papierkorb. Madame ist erstaunlich offen beim Erzählen ud Mich-sehen-lassen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns auf irgendeinem gesellschaftlichen Parkett wiederbegegnen, auch sehr gering.
Ich erledige meine Arbeit so, wie ich es von Mutti gelernt habe. Allerdings gibt es immer wieder etwas Neues. Messing- und Silberbeschläge an Antiqutiäten polieren zum Beispiel. Eines Tages werde ich gebeten, die Tapeten feucht abzuwischen. Ich komme aus Raufaserland und bin erst einmal verdutzt. Aber es handelt sich um äußerst kostbare Seidentapeten, sie verstauben mit der Zeit und müssen eben gereinigt werden. Das ist bei vier Meter Deckenhöhe ganz schön akrobatisch. Aber gut, ich mache es halt. Abends erzähle ich das meiner Freundin Heike, die eine andere Einladung bekommen hat: Sie hat Teppiche gefegt. Die teuren Perserteppiche werden nicht mit dem Staubsauger behandelt, der würde sie im Laufe der Zeit auffressen. Heike und ich grinsen uns an und sie sagt trocken: Irgendwann bitten sie uns noch zum Staub lecken.
PS: Wie es aussieht, ist das System Zimmer gegen Arbeit ausgestorben. Die chambres de bonne sind alle nach und nach an Immobilienfirmen verkauft worden, die aus mehreren von ihnen Wohnungen zusammengeschraubt haben. Der Immobilienpreis liegt im Moment in Paris bei 11.000€ pro Quadratmeter, im Bermudadreieck bei 16.000€. Da generiert ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer schnell ein kleines Vermögen von 100.000€. Aber ich bedaure das Verschwinden dieser Zimmer.