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Ich kann ein bestimmtes Lied nicht hören, ohne dass mir die Kehle eng wird.

Dieser Text ist Heiner gewidmet. Sowieso und besonders nach unserem Gespräch am Dienstag.

Sommer 2017
Es ist ein schwieriger Sommer. Das Dach ist neu, teuer und nicht dicht. Der Kamin ist kaputt und das war nicht vorgesehen. Außerdem ist er schon abgebaut, als ich komme. Ohne Kamin hat meine Hütte kein Zentrum. Ute friert, weil ich kein Feuer machen kann. Der Gärtner hat den Garten verkommen lassen. Ich schimpfe laut und ausdauernd, Ute hört mitfühlend zu. Das Wetter ist insgesamt nicht so toll und Heinz muss unter meiner angestrengten Laune leiden, als ich bemerke, dass die Platten oberhalb der Veranda gerissen sind. Ich kann also nicht wie geplant in den letzten zwei Wochen den Innenraum streichen, weil ich nicht sicher sein kann, dass die Platten oberhalb des Wohnraumes nicht auch gerissen sind. Der Kamin wird erst im Oktober gebaut und ich bin tausend Kilometer weit weg. Es ist wie ein Mückenstich auf tausend Kilometer Distanz.
Zum ersten Mal, seit ich meine Hütte gekauft habe, bin ich froh, dass ich nach Hause kann. Ich fahre die tausend Kilometer über Land, weil die Strecke so schön ist und weil ich auf diese Weise noch nicht ein einziges Mal Stau hatte. Einmal habe ich mich mit der Tour de France angelegt, die die gleiche Etappe fahren wollte wie ich. Diese Auseinandersetzung habe ich verloren, weil sie ihre Strecke für mich nicht ändern wollten. Aber sonst: alles gut, freie Fahrt. Ich habe auf diesen langen Fahrten viel gelernt über das Autofahren und heil ankommen. Ich esse und trinke genug, ich mache hinreichend Pausen und ich fahre viel defensiver als früher.

Ich will nicht in einem Auto sterben, sondern in meinem Garten in Mon Village. Die schlimmste Vorstellung ist es, im Auto zu sterben, wenn ich gerade die Toilette zur Entsorgung bringe. So eine richtige Prinzessin bin ich nicht, aber für einiges bin ich mir dann doch zu fein.
Ich bin schon in Luxemburg und liege gut in der Zeit. Es wird noch lange hell sein. Also probiere ich mal wieder eine neue Strecke aus, meine Ideallinie zur Ardennenüberquerung habe ich noch nicht gefunden. Ich fahre ohne Navi und bin zu faul, um auf die Karte zu schauen, also verfahre ich mich. Das ist nicht so schlimm, am Ende komme ich ja immer nach Hause. Oder?

In der Nähe von Colmar-Berg lande ich in einem Weiler, den ich nach Norden verlassen will. Die enge Straße macht im Ortausgang bergauf eine scharfe Linkskurve. Ich fahre nicht schneller als 25 km/h, weil ich die Kurve nicht einsehen kann.

Der LKW, der mir entgegenkommt ist ein Dreißig- oder Vierzigtonner. Die Straße ist viel zu schmal und die Kurve ist viel zu eng schon für ihn alleine. Also kommt er mir auf meiner Fahrbahn entgegen. Für uns beide ist hier kein Platz. Ich bremse, er auch. Ich bin noch geradeaus unterwegs, er nicht. Sein Führerhaus ist schon in der Kurve, als er in die Eisen geht. Und natürlich wird sein Fahrzeug durch die Vollbremsung in der Kurve unkontrollierbar.
Das Zugfahrzeug rutscht mehr oder weniger geradeaus und kommt links neben meinem Auto zum Stehen. Ich habe immer schon das Gefühl gehabt, dass unser Gehirn und unsere Psyche ungeheuerliche Kapazitäten haben und wir nur nicht wissen, wie man drankommt. Denn das folgende muss in Sekundenbruchteilen passiert sein. Aber während es passiert ist und auch rückblickend kommt es mir vor, als hätte ich minutenlang Zeit gehabt.
Das Führerhaus steht zwar, aber der LKW wedelt jetzt mit dem Schwanz. Das fände ich ziemlich lustig, wenn es mich nicht beinahe umgebracht hätte. Der Auflieger des Sattelzugs ist ungefähr sechzehn Meter lang und wie gesagt wohl um die dreißig Tonnen schwer. Originellerweise ist er lila, aber die Emanze in mir hat gerade Pause. Der Auflieger schlägt um, beschreibt einen Kreis um das Führerhaus herum und kommt in voller Breitseite bergab auf mich zu gerutscht. Ich bin meinem System dankbar, dass es nicht zu panischen Reaktionen neigt, sondern lieber Arbeitspläne und Checklisten schreibt. Schlecht wird mir immer erst hinterher. Also:

  • Rückwärts raus? Geht nicht, ich müsste eine Kurve fahren, weil das Führerhaus vom LKW ungünstig steht. Soviel Zeit habe ich nicht.
  • Aussteigen? Das Auto ist mein einziger Schutz. Zum Weglaufen ist keine Zeit.
  • Gang raus? Gute Idee, damit mein Auto beim Aufprall keinen Widerstand leistet.

Letzter Gedanke: Hoffentlich löst der Airbag aus, sonst war es das jetzt.  Hoffentlich tut es nicht zu weh. Danach sitze ich einfach da und sehe den riesigen Auflieger auf mich zukommen. Er kommt fünf Zentimeter vor meiner Motorhaube zum Stehen.

Es dauert ein bisschen, bis ich das verstanden habe. Als die Information, dass jetzt alle Teile des LKW stehen, in meinem Bewusstsein angekommen ist, fahre ich mein Auto rückwärts aus dieser seltsamen Umklammerung heraus. Ich steige mit weichen Knien aus und frage den Fahrer des LKW, ob er eine Zigarette für mich hat. Er verneint, fragt, ob ich ok bin. Ich nicke. Ich bin natürlich nicht ok. Ich bin nur eben nicht tot. Er steigt in sein Führerhaus und fährt einfach weiter.

Ich habe nie vorher und nie nachher so langsam und vorsichtig gelebt wie in den darauffolgenden Tagen. Ich habe allen Menschen, die ich getroffen habe, gesagt, wie sehr ich mich freue, sie zu sehen. Ich habe noch nie so gerne gearbeitet. Meine Schüler haben mich nie vorher und nie nachher so zärtlich erlebt.

Das Lied, das ich nicht hören kann, ohne dass sich mir die Nackenhaare aufstellen, heißt On n’est pas seul sur la terre. Wir sind nicht alleine auf der Welt. Es ist im Januar 2019 erschienen und nimmt eine wahre Geschichte auf.

Der Sänger Pascal Obispo rettet im Jahr 2008 bei einem Verkehrsunfall einem Mann das Leben. Er sammelt die Gliedmaßen, die das das Opfer verloren hat, einen Arm und ein halbes Bein und den jungen Mann selbst von der Straße ein und holt die Rettungskräfte. Der Täter begeht Fahrerflucht.  Die beiden Männer werden Freunde und sind in dem Video zu sehen. Wenn ihr möchtet, übersetze ich den Text.

Hildegard Wichmann

Hildegard Wichmann

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